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Peter Freudl
Borderline-Struktur und Beziehungsdynamik im therapeutischen Setting
Einführung
Ich möchte in diesem Artikel Gedanken zum Beziehungsgeschehen im therapeutischen Setting mit einem
Kliententypus beschreiben, der mir immer wieder große Schwierigkeiten bereitet hat und weiterhin eine
Herausforderung darstellt: die sogenannte Borderline-Persönlichkeitsstruktur. Auch alle KollegInnen, die
ich kenne, scheinen ähnliche gravierende Probleme mit diesem besonderen Typus zu haben. Diese
Probleme entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als spezifische Beziehungsstörungen, in denen der
Therapeut oft genug seine wünschenswerte Distanz verliert. Damit der Leser sich ein Bild machen kann,
worüber ich hier schreibe, scheint es mir nötig, zunächst kurz auf diagnostische und genetische Aspekte
dieser Störung einzugehen, sowie meine Haltung zur Gegenübertragung zu umreißen.
Eine besondere Schwierigkeit mit Borderline-Klienten scheint zu sein, daß sie die heftigsten
Gegenübertragungsgefühle im Therapeuten auszulösen imstande sind, als da sind: Traurigkeit, starke
Wut, Genervtheit, Verzweiflung und ein Gefühl der Sinnlosigkeit, Hilflosigkeit, Verwirrung und
Unsicherheit, Selbstzweifel und Schuldgefühle. Diese Tatsache gilt geradezu als ein
differentialdiagnostisches Kriterium für die Borderline-Struktur. Und diese Gefühle können im Verlauf der
Therapie immer wieder auftreten, über Monate und Jahre hinweg. Außerdem neigen diese Klienten dazu,
den Therapeuten direkt anzugreifen, und sie tun dies in einer aggressiven Form, die weh tut, weil sie oft
einen wunden Punkt des Therapeuten trifft.
Diese offene Feindseligkeit kann über lange Zeiträume bestehen bleiben, während sie weiterhin zur
Therapie erscheinen. Der Ausdruck ihrer Gefühle scheint ihnen wenig zu nützen, sondern macht sie oft
noch aufgelöster, ängstlicher oder resignierter. Im Gespräch mit diesen Klienten treten Widersprüche,
Brüche und Gedankensprünge auf, die höchst verwirrend sind. Außerdem stellt sich in der Therapie mit
ihnen kaum das Gefühl einer kontinuierlichen Entwicklung ein.
Es handelt sich um Menschen, die häufig sehr impulsiv und unberechenbar agieren, mit dem Ergebnis,
daß sie sich selber schaden. Das kann die Form von exzessiven Handlungen annehmen ( beispielsweise
Freßattacken, Alkoholismus, Gebrauch von Drogen, Anfälle von Kleptomanie oder
Verschwendungssucht), die nach dem Exzeß als Ich-fremd erlebt werden. Typischerweise berichten sie
als Klienten im Erstgespräch, daß sie derzeit keine Liebesbeziehung hätten (oder auch mehrere zur
gleichen Zeit), worunter sie sehr leiden. Sie neigen zu intensiven, aber auch sehr unbeständigen
Beziehungen, die Auslöser für starke emotionale Krisen sein können. Diese Krisen nehmen häufig
dramatische Formen an: Suiziddrohungen, Fragmentierungen, körperlich selbstschädigende Handlungen,
Minipsychosen etc. können auftreten. Ihre Einstellungen in Bezug auf andere Menschen können sich in
rasantem Tempo verändern, oft in der Form, daß sie übergangslos von einem Extrem ins andere
springen: was gerade noch wahnsinnig toll und phantastisch gut war, kann im nächsten Moment schon
ekelerregend schlecht und abscheulich mies sein.
Angst, die sich oft bis zur Panik steigern kann, ist ein steter Begleiter dieser Menschen. Häufig fürchten
sie Autoritätspersonen, öffentliche Auftritte, das Angeschautwerden, das sie mit massiven Ängsten,
beschämt und bloßgestellt zu werden, in Kontakt bringt. Alleinsein können sie sehr schwer ertragen und
unternehmen daher oft krampfhafte Anstrengungen, das Alleinsein und die damit verbundenen
Verlassenheitsängste, die eine elementare Wucht haben, zu vermeiden. Ihren Gefühlen gegenüber
wirken sie ausgeliefert: unbeherrschbare Weinanfälle, häufige Wutausbrüche oder dauernde Gereiztheit
kann vorhanden sein, wobei diese emotionalen Durchbrüche sehr unkontrolliert wirken.
Die Identität dieser Personen ist sehr unsicher. Das Selbstbild ist ebenso unklar wie die persönlichen
Ziele und inneren Präferenzen (einschließlich der sexuellen); fragt man einen solchen Menschen etwa
danach, was er wolle, so wird man auf Verwirrung stoßen. Diese Unsicherheit ist kein oberflächliches
Phänomen, sondern scheint einen bodenlosen Charakter zu haben, gerade so, als gebe es nichts Festes
und Sicheres in der Persönlichkeit dieser Menschen. Dazu passen schwere
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Depersonalisationserlebnisse, Verwirrtheitszustände, Gefühle der Orientierungslosigkeit,
Dämmerzustände, Konversionssymptome und diffuse psychosomatische Beschwerden.
Schließlich können Klagen über chronische Gefühle innerer Leere, Langeweile und Sinnlosigkeit
auftreten. Häufig sind schwerste Depressionen, die sich genau dann einstellen, wenn ein grandioses
Selbstbild an der Konfrontation mit der Realität zerbrochen ist. ( Zur Differentialdiagnostik vergleiche
DSM III der American Psychiatric Association und ICD-10 der WHO.)
Verantwortlich für die Genese dieser Störung scheint ein prozeßhaftes Geschehen zu sein, dessen Kern
die radikale Beschneidung der Autonomie des Kindes als eigenständiges Individuum ist. Ein wesentlicher
Bestandteil dieses Prozesses ist eine gravierende Symbiosestörung in der frühesten Lebensspanne (oft
in der Form parasitär-ausbeuterischer Symbiosebedürfnisse der Mutter), die für die grundlegende
Brüchigkeit des Selbstgefühls und die Gespaltenheit dieser Menschen verantwortlich ist. Dazu treten
später die Wirkungen einer elterlichen Haltung, die alle Autonomiebestrebungen bestraft und die
regressive Rückkehr in die Symbiose belohnt. Die in diesen frühen Beziehungen erworbenen Muster
werden in der therapeutischen Beziehung aktualisiert und in oft dramatischer Form wiederbelebt. Die
besondere Brisanz dieses Geschehens rührt daher, daß der Therapeut gleichsam in die symbiotische
Lebenswelt dieses Klienten verstrickt wird, was es früher oder später erforderlich macht, sich eingehend
mit den eigenen inneren Reaktionen auf diese Verstrickungen zu befassen, sich also dem Thema der
Gegenübertragung zuzuwenden.
Die Haltung zur Gegenübertragung scheint sich in psychoanalytischen Kreisen erheblich gewandelt zu
haben. Galt sie früher als unerwünschte Reaktion des Analytikers, die aus seinen eigenen ungelösten
psychosexuellen Konflikten herrührte und die Analyse als eine Störung behinderte, so werden jetzt
Gegenübertragungsgefühle mehr und mehr als notwendige und fruchtbare Bestandteile des
Therapieprozesses gesehen. Es scheint sich eine Sichtweise durchzusetzen, die mit Gegenübertragung
„die emotionalen Reaktionen der Therapeuten als Antwort auf das Verhalten des Klienten in der
therapeutischen Situation“ (Cashdan, S. 197) meint. Der Begriff schließt Gefühle aus, die durch irgendein
Ereignis im Leben des Therapeuten hervorgerufen wurden, beispielsweise seine Verärgerung über einen
Verkehrsstau, in den er geraten ist.
Emotionale Reaktionen des Therapeuten sind also ein unvermeidliches Produkt der Begegnung zwischen
Klient und Therapeut. Sie können genutzt werden, wenn der Therapeut sich erlaubt, seine mit dem
Klienten erlebten Gefühle wirklich zu fühlen und die in diesem Gefühl enthaltene Information für
diagnostische Zwecke oder Handlungsanweisungen zu nutzen. Wenn der Therapeut sich also
beispielsweise in der Sitzung abgeschnitten und ausgeschlossen fühlt, dann könnte er dies als Indiz dafür
nehmen, wie der Klient seine Beziehung zu ihm aufbaut und sich fragen, ob dies zum Muster erlernter
Objektbeziehungen seines Klienten gehört. Wichtig ist dabei, daß der Therapeut nicht seine Gefühle
ausagiert, sondern sie reflektiert, und zwar als mögliche emotionale Bestandteile der frühen Beziehungen
seines Klienten. Fühlt der Therapeut etwa Wut in sich, so könnte diese Wut ein Echo der abgespaltenen
Wut des Klienten sein oder eine Spiegelung der Wutgefühle einer wichtigen Elternfigur, mit denen der
Klient einst konfrontiert war.
Diese Sichtweise, die Gegenübertragung zu fühlen und zu nutzen, habe ich in meiner Praxis als sehr
befreiend erlebt, weil sie mir erlaubt, alle meine Gefühle zu fühlen und im Hinblick auf den
therapeutischen Prozeß wichtig und ernst zu nehmen. Und gerade im Zusammenhang mit Borderline-
Klienten, die den Therapeuten in eine verwirrende Vielfalt an Gefühlen stürzen können, scheint mir diese
innere Erlaubnis unerläßlich.
Formen der Gegenübertragung auf einen Borderline-Klienten
Schon sehr früh, häufig in der ersten Sitzung bzw. im Erstgespräch mit einem Borderline-Klienten treten
beim Therapeuten starke Gegenübertragungs-Gefühle auf. Das können Wut, Unsicherheit, Angst,
intensive Berührtheit oder andere Gefühle sein, die der Therapeut mit erstaunlicher Wucht in seinem
eigenen Körper erlebt. Zur Einschätzung dieser Gefühle scheint der folgende Zusammenhang brauchbar:
„Je frühzeitiger und heftiger die emotionale Reaktion des Therapeuten auf den Klienten ausfällt, desto
eher kann man annehmen, daßman es mit einem schwer regredierten Klienten zu tun hat“ (Kernberg, S.
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68). So treffend Kernbergs Beobachtung ist, so wenig erklärt sie, warum der Therapeut hier so
überraschend heftig reagiert. Erklärungen, die sich nur auf das seh- und hörbare
Kommunikationsgeschehen zwischen Therapeut und Klient beziehen, erscheinen mir aufgrund meiner
subjektiven Erfahrungen als zu schwach, um die Prozesse hinlänglich zu verstehen. Ich neige dazu, mir
dies so vorzustellen, daß der Behandler bei einem schwer regredierten Klienten schnell in den
energetischen Einflußbereich von dessen Aura gerät, die bei der Borderline-Persönlichkeit so weit und
ausgedehnt ist, weil Teile seiner Persönlichkeit gleichsam im Babyalter in ihrer Entwicklung blockiert
wurden (und Babys haben eine sehr weit ausstrahlende Aura) und weil diese Aura mit Blockaden
überfrachtet ist, in denen Erinnerungsspuren ungefühlter, aber emotional bedeutsamer Situationen
transportiert werden. Der Therapeut taucht gleichsam ein in einen energetischen Schwall ungelebter,
körperlos gewordener Emotionen, die nun von ihm und seinem Gefühlssystem Besitz ergreifen.
Ein Effekt, der sich aufgrund dieses beeindruckenden Phänomens ergibt, ist das Gefühl, es werde ein
eigentümlicher Zwang ausgeübt, der den Therapeuten dazu bringt, Dinge zu tun oder Sachen zu sagen,
die er eigentlich gar nicht will, zu denen er sich jedoch irgendwie hingedrängt fühlt. Es handelt sich dabei
um Reaktionen, mit denen sich der Therapeut selbst fremd fühlt, die sonst nicht zu seinen Wesenszügen
zu gehören scheinen, oder in denen er sich selbst kaum wiedererkennt. Es ist als laufe so etwas wie eine
energetische Umwandlung ab, in dem die Persönlichkeitsmerkmale des Therapeuten benutzt werden, um
ihn in eine Gestalt umzuformen, die der jeweiligen Objektbeziehungs- oder Situationseinheit des Klienten
entspricht. Die Begriffe Objektbeziehungseinheit bzw. Situationseinheit versuchen der symbiotischen
Erlebensweise gerecht zu werden, auf der dieser Klient zu funktionieren scheint. In diesem Erleben
existiert ja noch keine Trennung von Ich und Du, Innen und Außen, Selbst und Anderer, so daß
Selbstvorstellungen und Objektvorstellungen in unentwirrbarer Weise miteinander verschmolzen sind.
Das bedeutet, daß der Therapeut wahrgenommen wird gleichsam als identisch mit dem inneren
Objektpol der zu einem bestimmten Selbstbild zugehörigen Objektbeziehungseinheit (vgl. Masterson
1980). Nimmt sich die betroffene Person in ihrem Selbstbild beispielsweise als hilflos und leer wahr, so ist
typischerweise der aus ihrer Lebensgeschichte entstandene dazu gehörige Objektpol der einer
aggressiv-feindseligen Reaktion. Der Therapeut wird zum Träger dieser Reaktion umgeformt, d.h. er wird
dahin gedrängt, tatsächlich wütend zu werden.
Typischerweise ist dieser Prozeß von starken Unwilligkeitsgefühlen des Therapeuten begleitet, einem
inneren Sträuben, dem sich häufig ein schales Gefühl über das Benutztwerden oder Unmut und Wut über
das energetische Besetzt- und Manipuliertwerden beigesellen.
Häufig treten Gefühle der Minderwertigkeit und starker Selbstzweifel auf, etwa in der Form: „Ich bin das
Letzte, eine Zumutung für die Menschheit. Wie kann ausgerechnet ich mir anmaßen, Therapeut zu sein,
wo ich doch ganz und gar schlecht bin und unfähig noch dazu?“ Offenbar erlebt man hier am eigenen
Leib die verheerende Wirkung einer wie auch immer geäußerten Verurteilung (verbal, Gesten, Blicke etc.)
des Klienten durch eine wichtige Kindheitsfigur.
Wie stark diese Phänomene sein können, berichtet K. Stauss, Ärztlicher Leiter der Klinik für
Psychosomatische Medizin Grönenbach. Er schildert, daß häufig das ganze Therapeutenteam, das mit
Borderline-Klienten arbeitet, Angst vor der Öffentlichkeit habe, weil herauskommen könnte, wie schlecht
und inkompetent das Team arbeiten würde (Stauss 1988, S. 104 f).
Dazu gehört auch das Gefühl eigener Unzulänglichkeit: Was immer man selbst zu geben hat, ist nicht
gut, reicht nicht aus, ist bestenfalls nicht schädlich. Es bleibt der Eindruck, daß die Hand, die füttern will,
immer wieder gebissen wird. Hier wirken offenbar das übergroße Mißtrauen, das bei aller Anteilnahme
des Therapeuten eine dunkle Absicht, eine verborgene Forderung, ein damit eingekauftes Wohlverhalten,
ein Pseudo-Geben vermutet. Ein anderer Aspekt scheint zu sein, daß wirkliches Verstanden- und
Angenommenwerden die Gefahr in sich birgt, mit ihren wahren Gefühlen und Bedürfnissen sichtbar zu
werden, und damit angreifbar, verwundbar, beschämbar, schutzlos möglicher Feindseligkeit oder
Verspottung ausgesetzt.
Eng damit verknüpft ist ein Gefühl, das sich am ehesten als moralisches Versagen beschreiben läßt: Ich
sollte eigentlich anders sein bzw. etwas anderes tun; wenn ich nicht so bin bzw. so handle, bin ich ein
schlechter Mensch. Zentral hierbei ist das Wörtchen „sollte“. Es ist, als ob sich ein bedrängender
moralischer Imperativ ausbreitet, an dem man nur scheitern kann, da er über die menschlichen
Möglichkeiten hinausgeht. Ich sollte mich beispielsweise an alles erinnern, was die Person mir erzählt
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hat; ich sollte ihr endlich so helfen, daß es ihr fundamental besser geht; ich sollte immer für sie da,
zugewandt und interessiert sein, sie umfassend und sofort verstehen, ohne daß sie sich erklären muß
etc., ansonsten bin ich ein schlechter Mensch, böse und gemein. Dieser Prozeß steht offensichtlich im
Zusammenhang mit der für den Klient typischen projektiven Identifizierung; das ist eine Projektion, bei
der der Empfänger dieser Projektion dazu verleitet wird, sich genauso zu fühlen oder zu verhalten, wie in
der Projektion vermutet wird. Ich verwende diesen Begriff hier in der Form, wie er von Cashdan (1990)
entwickelt wird. Der wesentliche Unterschied zu anderen Verwendungen des Begriffs besteht darin, daß
das Gegenüber der Projektion tatsächlich von dieser affiziert und verändert wird. Die typische projektive
Identifizierung beim Borderline-Klienten reflektiert die scharfe und extrem polarisierte gut-böse Spaltung,
die die Hauptabwehr dieser Struktur ist und bei der der Therapeut in ein Wechselbad von Idealisierung
und Abwertung getaucht und mit Zuschreibungen konfrontiert wird, die ihm nicht gerecht werden. Es ist,
als ob man nur die Wahl hat, übermenschlich oder unmenschlich zu sein, als ob es dazwischen nichts
gäbe.
Der Ausgangspunkt des geschilderten Prozesses scheint die Regression in ein symbiotisches
Entwicklungsstadium und das folgende Bedürfnis zu sein: „Ich bin vollkommen hilflos. Ich bin absolut von
dir abhängig. Ich möchte, daß du ideal für mich bist. Ich möchte, daß du so bist wie in meinem Bild
meiner „symbolischen Eltern“. Das ist ein Begriff von P. Boyesen, der meint, daß jedes Kind mit einem
unbewußten Wissen darüber geboren wird, welche Qualitäten seine Eltern haben müßten, um mit ihm in
idealer Form umzugehen. Die innere Repräsentanz der idealen Elternfiguren nennt P. Boyesen
„symbolische Mutter“ bzw. „symbolischen Vater“. Ein wesentliches Charakteristikum dieser Idealfiguren
ist, daß sie in ihrer Vollständigkeit nie wirklich verkörpert sein können. Das heißt, daß der Therapeut mit
Forderungen konfrontiert wird, die er, selbst wenn er dies mit ganzem Herzen wollte, nie erfüllen könnte.
Dennoch wird der Klient versuchen, den Therapeuten dazu zu verleiten, über sich hinauswachsen zu
wollen, über seine Grenzen und gar die Grenzen des Menschenmöglichen hinausgehen und perfekt sein
zu wollen.
Dieser zutiefst menschliche Mangel an Perfektion, das unausweichliche Eingeständnis menschlicher
Begrenztheit droht schmerzlich bestraft zu werden. Die metakommunikativ mitgeteilte Einschärfung
erlebe ich etwa so: „Wenn du dich nicht so verhältst wie meine ideale Elternfigur, die du verkörpern
solltest, dann bist du gemein, weil du mir nicht gibst, was du eigentlich geben könntest und weil du nicht
so bist, wie du wirklich bist. Das ist fies von dir und ich bin völlig im Recht, wütend auf dich zu sein“. Das
ist die erste Variante, bei der die Person in Enttäuschungsaggression geht, auch deshalb, weil die
Idealisierung ungebrochen weiterexistiert. Die zweite Variante lautet etwa so: „Wenn du nicht so (siehe
oben) bist, dann bist du nichts wert und verdienst meine Verachtung und meinen Haß“. Diese
Entwertung des Therapeuten kann in einer dritten Variante über den völligen Rückzug der Besetzung
verschärft werden: „Wenn du nicht so (s.o.) bist, dann existierst du nicht mehr für mich“. Diese Position
führt entweder zum völligen Beziehungsabbruch (selten) oder wird aufgrund der starken Bedürftigkeit
schnell wieder aufgegeben.
Andererseits fehlt dem Borderline-Klienten aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen das Vertrauen,
daß die Hilfsangebote des Therapeuten wirklich gut und ehrlich gemeint sind. Der Therapeut sieht sich so
mit einem eigentümlichen Gemisch höchster Erwartung und abgründigen Mißtrauens konfrontiert. Es ist
als ob der Klient das Beste vom Therapeuten erwartet, gleichzeitig aber ein Beziehungsklima herstellt, in
dem die innere Bühne des Therapeuten von seinen vermeintlich schlechtesten, dümmsten, unfähigsten,
dunkelsten Seiten beherrscht wird.
Sicher treten auch Aggressionen, zuweilen gar Haßgefühle gegenüber dem Klienten auf, deren Intensität
einen Gradmesser für das Ausmaß an Destruktivität abgibt, dem der Klient als Kind ausgesetzt war. Oft
werden die aggressiven Impulse von Schuldgefühlen des Therapeuten begleitet: „Er hat ja recht, ich
hasse ihn wirklich, er soll sich verpissen, auf Nimmerwiedersehn!…. Aber darf ich das denn? Ich bin doch
sein Therapeut, der ihm helfen sollte. Was bin ich nur für ein Mensch….“
Manchmal sucht der Therapeut Zuflucht zu masochistischen Verhaltensweisen: „Die letzte Stunde war
wirklich grauenhaft; so was möchte ich nicht mehr erleben. Vielleicht, wenn ich ganz nett zu ihm bin und
sage, was er von mir hören will, vielleicht läßt er mich dann in Ruhe und hackt nicht weiter auf mir rum….
aber, der merkt das doch und dann ist er noch wütender…etc.“ Zusätzlich zur Paranoia kann sich dann
noch ein Selbsthaß für die eigene Feigheit einstellen.
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Eine weitere Variante möglicher Gegenübertragungen besteht darin, eine missionarische „Heilsbringer“-
Haltung (Kernberg 1983) einzunehmen, die sich auf die Rettung dieses armen Klienten kapriziert. In
dieser Haltung ist oft eine Komponente idealistischer Selbstüberhöhung enthalten; es handelt sich
gleichsam um eine Selbstidentifikation mit den „symbolischen Eltern“, die natürlich unrealistisch ist, aber
dem eigenen Narzißmus gefällt. Diese Haltung ist schon deshalb unrealistisch, weil der Therapeut in
seinen Möglichkeiten eben begrenzt ist; seine Zeit steht nicht unbegrenzt für diesen Klienten zur
Verfügung und auch die nüchterne Notwendigkeit der Bezahlung im therapeutischen Setting verträgt sich
schlecht mit einer Heilerattitüde.
Schließlich mag sich der Therapeut vor diesem Klienten zu schützen versuchen, indem er sich emotional
zurückzieht und gegenüber dessen Problemen gleichgültig wird. Da gerade dieser Klient für seine
Heilung die emotionale Präsenz und Verfügbarkeit des Therapeuten als realer Person benötigt, ist diese
Haltung der Indifferenz therapeutisch gesehen bestenfalls fruchtlos. Im Regelfall stellt diese Haltung für
den Klienten eine emotionale Katastrophe dar, da sie eine Atmosphäre trostloser Kühle wiederholt, die
dem Klienten in traumatischer Erinnerung ist.
All diese Phänomene stehen im Zusammenhang mit Prozessen des Klienten, die im nächsten Abschnitt
besprochen werden sollen.
Übertragungen bei Klienten mit Borderline-Struktur
Die Übertragungen eines Borderline-Klienten werden als intensiv, frühkindlich und chaotisch beschrieben.
Es kann zu Erscheinungen kommen, die die Bezeichnung Übertragungspsychose verdienen: Der Klient
verliert die Unterscheidungsfähigkeit zwischendem Therapeuten und wichtigen Figuren der eigenen
Vergangenheit (nicht „Du bist wie meine Mutter“ sondern „Du bist meine Mutter“. Dieser Prozeß steht
selbstverständlich im Zusammenhang mit der oben beschriebenen Umwandlung des Therapeuten in
einen Teil der Objektbeziehungseinheit, die der Verkennung eine gewisse Plausibilität verleiht.
Mahler führt die meisten Fälle von Übertragung auf nur zwei Mechanismen zurück: erstens die Ausübung
von Zwang gegenüber der Mutter, die dazu gebracht werden soll, „als allmächtige Erweiterung des
Kindes zu fungieren“ (Mahler, S. 357). Gegenübertragungsgefühle wie die von innerem Sträuben
begleiteten Ummodelungen, Minderwertigkeitsgefühle, Selbstzweifel, Gefühle des moralischen
Versagens, aber auch die Heilsbringerattitüde scheinen damit verknüpft zu sein.
Als zweiten Mechanismus nennt Mahler die Spaltung der Objektwelt. (Die folgende Dis-kussion lehnt sich
eng an die Zusammenfassung des Themas bei Rohde-Dachser 1983 an.) Aufgrund der aktiven Spaltung
in ein gutes und ein böses Objekt kann die Übertragung auf den Therapeuten in kürzester Zeit von
positiver zu negativer und wieder zurück springen. Der Klient kann den Therapeuten als allmächtig-gutes
oder sadistisch zerstörerisches Objekt erleben. Er neigt zu übergroßem Mißtrauen bei gleichzeitigen
magischen Heilserwartungen. Der Klient glaubt, der Therapeut könne den „unbenennbaren Hunger“, das
„existentielle Anliegen“ (Rohde-Dachser, S. 176 ff) des Klienten erfüllen, wenn er nur wolle. Und diese
magischen Qualitäten auch einzusetzen, dazu muß er mit allen Mitteln gezwungen werden.
Häufig wird das schlechte/böse Objekt auf den Therapeuten projiziert, der dann mit einem bösen
„Monster“ identifiziert wird und als solches genau beobachtet und unbarmherzig kontrolliert werden muß,
da er nun als „Mr. Hyde“ den Klienten attackieren könnte. Außerdem bewegt den Klienten die Furcht, daß
die eigenen starken Liebes- und Haßgefühle zerstörerisch für den Therapeuten seien (wie sie es für ein
Elternteil gewesen wären). Dies ist nicht unbegründet, weil die eigenen Liebesgefühle eine gierig
verschlingende Beimischung enthielten und ihr Haß von archaischer Gewalt ist.
Schließlich bewegt den Klienten ein Objekthunger, der zu einer bedingungslosen Identifikation mit dem
Therapeuten führen kann, gleichzeitig existiert jedoch eine große Angst, sich die Deutungen oder
Ansichten des Therapeuten zu eigen zu machen, weil das als Verlust von Identität gefürchtet wird.
Anders gesagt : Einerseits ist im Borderline-Klienten das Bestreben wirksam, seine innere Leere damit zu
füllen, daß der Klient sich den Therapeuten gleichsam „einverleibt“. Dieses Einverleiben nimmt die Form
an, daß der Klient die Haltungen, Worte und Idiosynkrasien des Therapeuten fast unverdaut verschlingt.
Konträr dazu wirkt ein elementarer Selbstschutzmechanismus, der gegen die Überfrachtung des Selbst
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durch das Einverleibte ankämpft und das Ureigene zu bewahren sucht, indem er das fremde Andere
wieder rundweg abstößt.
Ferner kommt es häufig zur Übertragung archaischer innerer Realitäten, bei der auf der Basis tiefen
Materials des Primärprozesses die therapeutische Beziehung in eine mythologische Dimension gerückt
wird.
Übertragung/Gegenübertragung und Felddynamik
Diese Erkenntnisse über das Übertragungsgeschehen waren für mich eine große Verständnishilfe in
meiner praktischen Arbeit. Dennoch glaube ich, daß die Rede von Übertragungen und
Gegenübertragungen nur zum Teil angemessen ist, weil ihre Basis ein Denken in getrennten Ich-und-Du-
Einheiten ist. Und dieses Denken ist offensichtlich der Erlebniswelt eines Kindes in der präverbalen
symbiotischen Phase unangemessen, in der aus der Perspektive des Kindes ja noch gar kein klares,
begrenztes, äußeres Objekt existiert. Es scheint mir bei Borderline-Prozessen sinnvoll zu sein, neben den
Konzepten von Übertragung und Gegenübertragung eine andere Sprache zu verwenden, die sich auf die
Dynamik von Beziehungen und energetischen Feldern bezieht. Beide Redeweisen scheinen mir nötig.
Die eine betont den Aspekt eines getrennten Individuums, die andere den des Bezogenseins
menschlicher Wesenheiten in einem gemeinsam erschaffenen Beziehungsraum. Es scheint mir sinnvoll,
beide Sichtweisen parallel greifbar und gegenwärtig zu halten, auch wenn sie sich auszuschließen
scheinen wie die Deutung des Lichts als Korpuskel und als Welle.
Eine solche Sicht setzt voraus, daß der Therapeut bereit ist, den Gedanken der therapeutischen Distanz
und zwischenmenschlichen Getrenntheit für eine gewisse Zeit hintan zu stellen und seine Reaktionen als
persönliche und als Wiederbelebungen der Gefühlsregungen einer wichtigen Person in der Geschichte
des Klienten zu sehen. Der Therapeut erlaubt gleichsam, daß der Erfahrungsraum seiner eigenen
Empfindungen, Gefühle, Phantasien und Bilder zur Bühne wird, auf der sich Szenen des
Beziehungsdramas des Klienten entfalten können.
Gerade mit Borderline-Klienten fällt dieses Erlauben recht schwer, schon allein deshalb, weil das Gefühl
so stark ist, der Klient habe sich bereits gewaltsam Zugang zu dieser Bühne verschafft und hielte sie nun
besetzt. Der Sinn des Stückes, das sich dort entwickelt, bleibt oft lange Zeit nebelhaft, verworren, karg
mit spärlichen Lichtblitzen, die etwas Helligkeit in das dunkle Geschehen bringen. Hier sind die Geduld
und das Ausharren des Therapeuten gefragt, das Aushaltenkönnen des eigenen Nichtwissens, das
Verweilenkönnen in den eigenen Wüsten, in denen weit und breit keine Oase zu sehen ist. Natürlich ist
das kein angenehmer Zustand und es gibt innere Widerstände, sich in diese Räume hineinziehen zu
lassen, was zu zusätzlichen Verwicklungen führt. Es kann jedoch vermutet werden, daß das Wandern
und Herumirren in unwirtlichem Gelände (mit dem der Therapeut sich auf die innere Landschaft des
Klienten einläßt) ein wesentlicher Teil des therapeutischen Prozesses sind, ohne den kein günstiger
Ausgang zu erwarten ist. Es ist wie in einem Märchen, in dem der Protagonist erst eine bestimmte
Prüfung bestehen muß, bevor sich etwas Neues ereignen kann.
Ein weiteres Phänomen ist von Bedeutung: „Während der ganzen Behandlung eines Borderline-Klienten
wird der Therapeut von dem unbewußten Auge des Klienten beobachtet und beurteilt. Dieses Auge mißt
sehr wachsam, wie sehr der Therapeut sich im Kampf zwischen den niedrigeren Ansprüchen der
menschlichen Natur und den höheren Ansprüchen der Seele engagiert“ (Schwartz-Salant, S. 34 f).
Versucht der Therapeut also, die Mühen der dunklen Ebenen zu vermeiden, etwa indem er einfache
Lösungen oder eine halbwegs passende Deutung anbietet, so schürt das eher das Mißtrauen und trägt
mehr zur Verzweiflung des Klienten bei, als sie zu mindern. Es geht hier also ganz sicher nicht darum,
eine vorgefertigte Lösung als allwissender Therapeut zu haben, sondern den Klienten wissen zu lassen,
daß man mit ihm gemeinsam um die Bewältigung der Probleme ringt. Das Arbeitsbündnis entwickelt sich
nur dann, wenn der Therapeut die Gemeinsamkeit der Suche anerkennt. Im Grunde handelt es sich
darum, gleichsam mitten in der Beziehungssuppe zu sitzen und zu warten und zu vertrauen, daß sich die
Bilder und Gedanken klären.
Identitätsdiffusion und Spaltung erschaffen einen Beziehungsraum, der sich (aus der Sicht des
Behandlers) als teigig, zäh, atemraubend, beengend und nebelhaft-verwirrend beschreiben läßt. In
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diesem Raum verstricken sich die unverkörperten, abgespaltenen Energien des Klienten mit denen des
Therapeuten. Dies führt zu Verlust von Distanz mit erheblichen Trübungen der Sinne. Es ist, als würde
man mit dem Fernglas eine Qualle betrachten, die auf der Linse des Glases festgeklebt ist; oder wie das
Gefühl, in einer chaotisch-zähen, trüben, schleimigen Ursuppe zu sitzen, in der man zur Reglosigkeit
verdammt und das Denken gleichsam eingeklemmt ist. In diesem Raum kommt es zu
Wahrnehmungsausfällen und Denkblockaden, zu dem was ein Psychiater „dissoziative Reaktionen“
nennen würde; auch das „imaginale Sehen“ geht verloren.
Die Energien und Gefühle, die der Klient nicht besitzt sondern ausgelagert hat, tendieren dazu, den
Therapeuten zu besetzen, d.h. daß der Mechanismus der projektiven Identifikation nicht allein auf der
Ebene der psychologischen Manipulation wirksam ist, sondern vor allem ein energetisches Phänomen ist,
das notwendig zur Begegnungsdynamik mit einem Borderline-Menschen dazugehört. Die Begegnung
impliziert ein Wiedereintauchen in den Beziehungsstrom der symbiotischen Zwei-Einheit Mutter-Kind. Die
energetische Landschaft dieser Beziehung ist der Boden, auf dem sich der Borderline-Klient und der
Therapeut begegnen.
Die so entstandene Beziehungslandschaft ist ganz wesentlich geprägt von den körperlichen
Abspaltungen, zu denen Borderline-Klienten Zuflucht genommen haben. Dies ist nicht einfach nur eine
Metapher, sondern meint, daß bestimmte psychische Prozesse/Erinnerungsspuren/sensorische
Eindrücke tatsächlich nicht als eigene körperlich wahrnehmbare Empfindungen und Emotionen erfahren
werden, sondern ausgelagert werden, weil die persönliche Inbesitznahme des zugehörigen psychischen
und/oder emotionalen Prozesses für die betroffene Person bedrohlich ist. Den psychischen
Abwehrmechanismen der Spaltung und der projektiven Identifizierung, die so typisch für die Borderline-
Persönlichkeit sind, korrelieren körperliche Prozesse der Abspaltung, der inneren Unverbundenheit, der
mannigfachen Blockaden. Der Körper ist hier typischerweise nicht als einheitliches Ganzes
wahrnehmbar, seine Grenzen werden oft nur verschwommen wahrgenommen, Gefühle des Zerfallens in
einzelne Teile mit leeren Zwischenräumen können auftreten. Diese (und andere) körperlichen
Phänomene sind die Basis für die Vermischungen und Verstrickungen im Beziehungsleben einer
Borderline-Persönlichkeit.
Ich möchte meine Ausführungen über die Beziehungsdynamik um die Beschreibung einiger
Kernsituationen ergänzen, die mir in der praktischen täglichen Arbeit als typisch erscheinen und deren
Bearbeitung ich für therapeutisch fruchtbar halte.
Das Fehlen eines wohlwollend realistischen Selbstbeobachters
Ein gravierendes Problem der therapeutischen Arbeit ist das Fehlen einer selbstreflexiven Instanz bei der
Borderline-Persönlichkeit. Kernberg führt aus, „daß Menschen mit solch einer pathologischen Ichstruktur
praktisch kaum in der Lage sind, eine probeweise Dissoziation ihres Ichs in einen erlebenden und einen
beobachtenden Anteil…. vorzunehmen…“ (Kernberg, S. 1OO). Dazu gehört auch, daß die
Energiebewegung im Körper dieses Klienten sehr stark nach oben gerichtet ist, was zu einem Überdruck
im Kopf führt, der alle Denkprozesse zu beeinträchtigen scheint.
Die mangelnde Entwicklung dieses distanzierten Selbstbeobachters macht sich etwa dann bemerkbar,
wenn der Klient einen Konflikt aus seiner Partnerschaft bzw. seinem Beruf schildert. Der Konflikt hat oft
dramatische Ausmaße, die gravierende Konsequenzen für den Klienten haben können, etwa Trennung
oder Verlust des Arbeitsplatzes. In aller Regel berichtet der Klient davon in der Form, daß die Schuld an
diesem Konflikt ausschließlich bei der/den jeweils anderen liege. Und der Klient spricht dabei oft mit so
haßerfüllter Selbstgerechtigkeit, daß die prinzipielle Solidarität des Therapeuten auf eine harte Probe
gestellt wird.
Beispielsweise denke ich an eine Sitzung mit einem 32-jährigen Feinmechaniker, den ich Otto nennen
möchte, der die Sitzung mit wahren Haßtiraden auf seinen Chef beginnt, weil der ihn „blöd angemacht“
habe, weil er „ein bißchen zu spät gekommen“ sei. Während ich Otto zuhöre, entsteht in mir eine gewisse
Bestürzung über die Blindwütigkeit dieses Klienten. Es ist, als wehre sich etwas in mir, die Sichtweise des
Klienten als einzig mögliche zu akzeptieren (auch deshalb, weil Otto recht häufig zu spät kommt, was
auch schon Therapiethema war). Gleichzeitig wird in mir der Eindruck immer stärker, alles andere als
rückhaltlose Unterstützung seiner Sicht würde Otto als verletzenden Angriff werten. Otto scheint mich vor
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die Wahl zu stellen, entweder total und bedingungslos auf seiner Seite zu stehen oder zum Feind erklärt
zu werden. Letzteres könnte bedeuten, seinen ganzen Haß auf mich zu lenken. Ratlosigkeit stellt sich
ein. Ich denke: „Was tun? Eine differenzierende Haltung scheint nicht möglich … Da läuft offensichtlich
eine Spaltung … Welche Möglichkeiten habe ich? Ich könnte mich einfach raushalten, nichts sagen, ein
paar Mal nicken, schließlich könnte er ja auch völlig im Recht sein und meine Privatmeinung hat in der
Therapie nichts zu suchen. Und wenn ich ihn gut begleite, dann wird er schon selber drauf kommen und
seine eigenen Anteile an dem Konflikt sehen … Ach Mist, den Gefallen tut er mir nicht. Und so wie er
mich anschaut, scheint er meinem Nicken nicht zu trauen. Hoffentlich sagt er mal was, bei dem ich ein
klares Gefühl habe und ihn ehrlichen Herzens unterstützen kann … Jetzt muß ich mal was sagen, klar
machen, daß ich ihn gut verstehen kann. Aber tue ich das denn? Er schaut eh schon so mißtrauisch.
Wenn ich das nicht wirklich meine, was ich sagen will, das durchschaut er doch sofort. Und ich fühl mich
hinterher schlecht, wenn ich was sage, was ich eigentlich nicht glaube … Wie lange dauert die Stunde
eigentlich noch? Ich mag solche Stunden nicht, bei denen ich hinterher das Gefühl habe, sie überstanden
zu haben … Vielleicht hilft es, wenn ich ihm erzähle, was alles mit mir passiert, während ich ihm zuhöre.
Aber der hat wirklich Schwierigkeiten. Er reitet sich wieder mitten in die Katastrophe. Wenn der so
weitermacht, ist er seinen Job bald los, damit müßte ich mich beschäftigen. Von meinen Reaktionen zu
sprechen, das lenkt doch nur ab. Und ist das nicht eher mein Interesse, weil ich es nicht mehr aushalten
kann? … Andererseits: meine vornehme Zurückhaltung hier bringt ja auch nichts. O.K., ich riskier das
jetzt mal. Ich sage: „Otto, während ich dir zugehört hab, hab ich mich ziemlich unbehaglich und gespalten
gefühlt. Einerseits kann ich gut verstehen, daß du sauer wirst, wenn dich einer blöd anmacht. Andrerseits
habe ich mich unwohl dabei gefühlt, weil ich den Eindruck habe, du siehst gar nicht, wie du dir diese
Situation selbst eingebrockt hast. Wie denkst du denn darüber?“ Otto reagiert zunächst empört, allerdings
in einer Intensität, die viel geringer ist als der von mir befürchtete Haßausbruch. Er geht deutlich auf
Distanz zu mir, wirkt auf eigentümliche Art empört, hilflos und gekränkt zugleich. Der weitere Verlauf der
Sitzung ist bestimmt von meinem Versuch, Otto mit diesen Gefühlen aufzufangen, ihn weiter meiner
prinzipiellen Solidarität zu versichern, ohne jedoch meinen Realitätsstandpunkt aufzugeben.
Bei Borderline-Klienten dominiert das Agieren, doch die Wirkung eigener Handlungen wird kaum
gesehen, geschweige denn in einer planvollen Weise reflektiert. Hier scheinen sich Spaltungsvorgänge,
dissoziative Prozesse, fehlende menschliche Kontakte und die Nöte eines Ich, das sich immer am Rande
der Fragmentierung bewegt, in eine unheilvolle Allianz begeben zu haben, die dem Klienten schadet. Die
Borderline-Persönlichkeit kann sich selbst nur sehr verschwommen sehen und durch ihre Tendenz,
andere Menschen in ihre diffuse Identität hineinzuziehen, verlieren diese ihre Fähigkeit zu adäquater
Spiegelung. Ich erinnere mich an Sitzungen mit Otto, in denen er auf mich besonders aufgelöst,
chaotisch-zerstreut und wirr wirkte. Seine energetische Ausstrahlung war derart, daß ich große Mühe
hatte, meinen Boden zu behalten, mich in meinem Körper und unabhängig zu fühlen. War es gar eine
Sitzung, bei der ich durch Ereignisse in meinem Leben mit mir im unreinen war, so schien es fast
unmöglich, dieser nebulösen Sogwirkung zu entgehen und ich befand mich nach kurzer Zeit zusammen
mit dem Klienten in dieser typischen zäh-klebrigen diffusen Scheinsymbiose. Manchmal blieb diese bis
zum Ende der Stunde bestehen und das zugehörige Gefühl konnte sich erst auflösen, nachdem Otto
gegangen war.
Eine Hauptaufgabe des Therapeuten mit solchen Klienten scheint mir, auf die Entwicklung eines
realistischen Selbstbeobachters hinzuarbeiten, der Zusammenhänge zwischen eigenen Handlungen und
Wirkungen erkennen lernt und der auch eine reflektierende Pause zwischen Bedürfnis und der Handlung
einlegen kann, die der Befriedigung dieses Bedürfnisses dient.
Um nicht mißverstanden zu werden: es gibt Instanzen, die das Verhalten einer Borderline-Persönlichkeit
wahrnehmen und kommentieren, doch sind auch diese durch Spaltungsvorgänge deformiert. Es handelt
sich keineswegs um eine wünschenswerte, wohlwollend-realistische Selbsteinschätzung, sondern
Selbstüberschätzungen wechseln sich mit grausamen, vernichtenden Urteilen der inneren Stimmen ab.
Es scheint mir wichtig, daß der Therapeut seine differenzierende Sichtweise entwickelt und auch mitteilt,
um so die allmähliche Stärkung der Ich-Funktionen Realitätsprüfung, planvolles Handeln und
Bedürfnisaufschub zu erreichen. Das schreibt sich leicht, aber aus diesen Worten läßt sich kaum
ermessen, wieviel Mut es manchmal erfordert, sich der befürchteten Aggressivität dieses Klienten zu
stellen, der so hart zuschlagen kann.
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In technischer Hinsicht hat sich eine konfrontierende Frageform bewährt, etwa so: „Warum lebst du deine
Gefühle immer noch auf diese Weise aus, obwohl du doch schon oft erlebt hast, daß dir das nur Ärger
einbringt und daß du dir damit selbst schadest?“ (Vgl. Aalberse, S. 14) . Oder: „Ich frage mich, warum du
immer wieder in Situationen kommst, wo du das Opfer bist und die anderen die Bösewichte? Wie siehst
du das denn?“
Das Fehlen von Kontinuität und Kohärenz und das „Lesen“ des Therapeuten
Eine weitere Schwierigkeit in der Arbeit mit Borderline-Klienten besteht darin, so etwas wie einen roten
Faden im Therapieprozeß oder auch nur in einer einzigen Stunde zu erkennen bzw. einen gemeinsamen
tragfähigen Boden zu schaffen, auf dem sich kontinuierlich aufbauen ließe. Es ist, als schaufele man
immer wieder den Zugang zum gleichen Labyrinth frei, um in der nächsten Sitzung festzustellen, daß der
Eingang wieder zugeschüttet ist. Zeichen dieser mangelnden Kontinuität ist die typische Anfangssituation
einer Stunde. Ich erlebe es häufig so: Die letzte Stunde scheint vergessen, der Klient sitzt abwartend da
und während ich ihn frage, wie es ihm geht, beschleicht mich das unbehagliche Gefühl, daß dieser Klient
dabei ist, gleichsam mit seiner Aufmerksamkeit in mich einzudringen und mein Inneres nach außen zu
kehren. Es fühlt sich an wie ein sehr kritisches „Lesen“ meiner Gefühlszustände, das mit einem Urteil
über mich endet. Dieses Urteil ist spürbar; im ungünstigen Falle habe ich es so erlebt, daß der Klient
mich abschreibt, seine Hoffnung in mich begräbt und sich dann desillusioniert und beunruhigt
zurückzieht. Dieser Prozeß läuft sehr schnell ab und begleitet die ersten Worte, die wir wechseln.
Nach einer vagen Auskunft über die Befindlichkeit des Klienten scheint das Gespräch zu versiegen. Es ist
als ob sich eine Starre über die Interaktion legt, und der Klient scheint jede Eigeninitiative verloren zu
haben. Eine gespannte Erwartung beginnt im Raum zu lasten, die mich zu bestürmen scheint, etwas zu
tun, doch ist der Druck derart, daß kein geeignet wirkender Einfall sich bei mir einstellen will. Es mag
sein, daß ich in dieser Situation den unausgesprochenen Forderungsschwall erlebe, dem mein
Borderline-Klient als Kind ausgesetzt war. Man erinnere sich, daß er typischerweise in seiner
Lebensgeschichte mit einer Mutter konfrontiert war, die zu der strengen und fast grausamen, oft nicht
verbalisierten Forderung neigte, daß das Kind vollständig gemäß ihren Erwartungen heranwachsen solle
(Vgl. Chessik, 1977). Es scheint mir begründet, anzunehmen, daß das Kind sich so sehr bemüht hat, zu
verstehen, welche stummen Forderungen an es gerichtet waren, daß es zu einem Meister des
energetischen „Durchscannens“ seines Gegenübers geworden ist. Damit verbunden ist eine antrainierte
Lenkung der Aufmerksamkeit ins Gegenüber, die sie oft so hellsichtig gegenüber den feinsten Regungen
anderer Menschen machen, aber andererseits bewirkt, daß weite Landstriche ihrer eigenen Innenwelt
blinde Flecken bleiben. Dem korrespondiert, daß weite Bereiche des eigenen Körpers der
Selbstwahrnehmung verschlossen sind. Diese Aufmerksamkeitsrichtung gilt es, im therapeutischen
Prozeß umzukehren, so daß die körperliche Innenwelt des Klienten mit eigener psychischer Energie
besetzt wird. Das bedeutet, daß es in der therapeutischen Arbeit viel darum gehen wird, den eigenen
Körper deutlich zu spüren und ihn wieder in Besitz zu nehmen.
Das verborgene Dreieck in der therapeutischen Dyade
Ein anderes wichtiges Element in der Therapie von Borderline-Persönlichkeiten ist das Phänomen, daß
es zu spezifischen Dreiecksbildungen kommt. Obwohl das therapeutische Setting die Begegnung zweier
Personen enthält, wirkt, wenn starke Spaltungsprozesse vorliegen, eine verdeckte Dreiecksbeziehung.
Die kann die Form annehmen, daß in der therapeutischen Beziehung alles gut zu gehen und sich ein
harmonisches Arbeitsverhältnis entwickelt zu haben scheint, während sich gleichzeitig die Beziehungen
in der Lebenswelt des Klienten verschlechtern. Kurz zusammengefaßt scheint in der Sicht des Klienten
folgende Polarität zu entstehen: wir zusammen sind gut – die Welt ist schlecht. Werden die aggressiven
Seiten des Klienten aus dem Therapieraum ausgeschlossen, suchen sie sich um so stärker draußen ein
Ventil. Die erwähnte Struktur kann jedoch sehr schnell in ihr Gegenteil umschlagen, etwa wenn der Klient
die Bekanntschaft einer Person X macht, die er idealisieren kann. Das die therapeutische Beziehung
dominierende Muster kann sich dann etwa so verkehren: du bist schlecht – ich und X zusammen sind gut.
Ich erwähne diesen Aspekt, weil manche Therapiemodelle die Entwicklung des ersten
Beziehungsmusters (wir sind gut – die Welt ist schlecht) stillschweigend oder explizit favorisieren, ohne
die Spaltungsaspekte darin zu erkennen. Kirsch spricht hier von einer „unheiligen Allianz“ (in: Maul,
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Hrsg.,1992, S. 206) zwischen Therapeut und Klient gegen „Die“. „Diese „Die“ ist die Gesellschaft im
allgemeinen, die Eltern und alle anderen nicht liebenden geliebten Objekte aus der Vergangenheit und
der aktuellen Umgebung; sie sind die Verbindungen, die Partner, die Autoritäten, die Kräfte und all die
unsensiblen Menschen um uns herum.“ (Kirsch, ebd.) Wesentlich an der „unheiligen Allianz“ sei, daß sie
die negative Übertragung vermeidet.
Als Fazit dieser kurzen Diskussion möchte ich festhalten, daß alle therapeutischen Ansätze, die die Arbeit
mit der negativen Übertragung vermeiden, die Spaltungen ihrer Klienten zumindest unangetastet lassen,
sie häufig jedoch noch verstärken. Borderline-Persönlichkeiten, als deren Hauptabwehr bekanntlich die
Spaltung gilt, brauchen ein Gegenüber, das da bleibt, auch wenn sie es zum Ziel ihrer Aggressionen
machen.
Feindseligkeit und Nähe: „Ich hasse dich, verlaß mich nicht.“
Borderline-Persönlichkeiten gelten als Klienten, die sehr aggressiv werden können und ihre Ablehnung,
ihren Haß, ihre Feindseligkeit auch in scharfer Form ausdrücken. Die besondere Unerbittlichkeit dieser
Attacken ist ein Ergebnis der Spaltung: die Aggressivität wird nicht durch libidonöse Gefühle für ein auch-
gutes Objekt gemildert, sondern äußert sich in ungehemmter Destruktivität vor einem total-bösen Objekt.
Für den Therapeuten scheint mir das Schwerste, in die Schußlinie dieser destruktiven Energie zu geraten
und für den Klienten emotional präsent zu bleiben, denn die Aggression des Klienten wird als elementarer
Angriff auf das Lebensrecht des Therapeuten, überhaupt da zu sein, und als existentiell vernichtend
empfunden. Es ist klar, daß dieses aggressive Agieren auch die Unsicherheit des Klienten erhöht, da sein
Gegenüber ja in ebenso scharfer Form antworten könnte. Und es droht, daß das Gegenüber sich völlig
zurückzieht, so daß der Klient allein zurückbleibt, was natürlich frühe Verlassenheitsängste aktualisiert.
Dieses Gemisch aus Vernichtungs- und Verlassenheitsängsten leitet den stimmungsmäßigen
Umschwung ein, so daß der Klient sich wieder anzunähern beginnt. Der Satz: „Ich hasse dich, verlaß
mich nicht!“ faßt diesen Prozeß prägnant zusammen.
Oft erfolgt unmittelbar nach den Haßausbrüchen ein Umschlag in eher regressives, anklammerndes
Verhalten. Beispielsweise kann es passieren, daß der Klient wütend aus dem Therapiezimmer stürmt,
sich einige Tage später telefonisch meldet, als wäre nichts gewesen, sich völlig hilflos gebärdet und den
Therapeuten um Rat oder eine zu-sätzliche Stunde bittet. Diese Annäherung des Klienten scheint
therapeutische Chancen zu enthalten, doch der spezifische Umgang einer Borderline-Persönlichkeit mit
Nähe und Intimität kann diese leicht zunichte machen.
Nährende Intimität ist ein heilendes Prinzip, doch Borderline-Persönlichkeiten fällt es schwer, aus
emotional nahen Situationen Nutzen zu ziehen. Sie können nicht unbeschadet in eine gute Symbiose
sinken, weil sie keine Kraft daraus schöpfen, sondern sich eher mit den abgespaltenen negativen
Energien des anderen belasten, die leicht in sie eindringen können. Natürlich bedroht emotionale Nähe
ihre prekäre Ich-Identität, die sich in einem affektiv warmen Klima aufzulösen droht. Das macht Angst.
Diese Angst kann durch eine aggressive Wendung gegen das Gegenüber abgewehrt werden und als
Begleiterscheinung der Aggression stellt sich auch wieder ein Ich-Gefühl ein. Aber damit wird auch ein
neuer Zyklus in Gang gesetzt, da die Aggression wieder die Angst vor Beziehungsverlust stimuliert etc.
Dieses Hin-und Herschwingen zwischen weinerlichem Anklammern und zornigem Wegstoßen ist treffend
als „sadomasochistischer Clinch“ bezeichnet worden. Stauss spricht davon, daß der Therapeut einer
„emotionalen Kneipp-Kur“ ausgesetzt wird, einem raschen Wechsel von warm und kalt in der
emotionalen Gestimmtheit, mit der der Klient dem Therapeuten begegnet (Stauss, 1988).
Der Therapeut muß sich jedoch nicht nur mit der offenen Feindseligkeit seines Klienten beschäftigen,
sondern auch mit seiner eigenen, die durch dessen Verhalten unweigerlich stimuliert wird. Es ist, als lege
der Klient alles darauf an, den Therapeuten in die böse Mutter zu verwandeln, die das Damoklesschwert
des Beziehungsabbruchs schwingt. Und er kann dabei durchaus erfolgreich sein: „Jetzt schmeiß ich ihn
raus. Ich kann die Erpressungen, Beschimpfungen und diese blinde Arroganz etc. einfach nicht mehr
ertragen. Der will es ja nicht anders. Er bestätigt mir immer wieder, daß die ganze Arbeit nichts bringt,
dann wäre es doch das beste, er würde sich jemand anders suchen, der besser für ihn ist.“ Es scheint mir
wichtig, sich klarzumachen, daß diese Feindseligkeit die des Therapeuten ist und doch ist sie gleichzeitig
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das Ergebnis einer projektiven Identifikation des Klienten, in der der Therapeut dazu gebracht wird, sich
mit den Elternintrojekten des Klienten zu identifizieren, die diesen wegschicken, ausgrenzen oder seine
bloße Existenz verdammen wollen. Gelingt es dem Therapeuten, sich diesen Zusammenhang wieder ins
Bewußtsein zu rufen, so kann er ihn zum Therapiethema machen, statt seine Feindseligkeit
auszuagieren.
Die spezifischen Formen des Weggehens
Der Erfahrung der Borderline-Persönlichkeit, daß ihr Dasein und ihr ureigenes Sosein ungewollt und
unerwünscht waren und Distanzierung auslösten, entsprechen diverse Formen des Weggehens, die sie
als Bewältigungsstrategien einsetzt. Die wichtigste dieser Formen scheint mir die des Weggehens aus
dem eigenen Körper, da sie die Basis für alle andern Dissoziationsvorgänge abgibt. Aus der
charakteranalytischen Untersuchung schizoider Strukturen ist bekannt, daß starke Feindseligkeit einer
Elternfigur den Säugling in solchen Schrecken und Todesangst versetzen kann, daß das Leben im
eigenen Körper unerträglich wird. Der Säugling behilft sich dadurch, daß er sein Bewußtsein aus den
Körperregionen, in denen dieser Schrecken wütet, abzieht, die Verbindung dazu abbricht und diese
Körperregionen gleichsam einfriert. Das Bewußtsein zieht sich aus den Gefühlsregionen des Körpers in
den Kopf und die Aura zurück. Der Preis dafür ist die nur sehr mangelhaft entwickelte Fähigkeit zur
Introspektion und Selbstwahrnehmung (auch und gerade des eigenen Körpers) und die typische als-ob-
Ausstrahlung des späteren Erwachsenen, dessen Lebensäußerungen etwas mechanisches, kühles,
formelhaftes und körperlos-intellektuelles anhaftet.
Anders jedoch als beim kühlen Schizoiden ist die innere Dynamik der Borderline-Person oft nahe am
überkochen, was zu der bekannten Tendenz zu agieren führt. Auch das Agieren selbst ist ja ein
Weggehen, ein Fliehen vor der Wahrnehmung der inneren, emotionalen Realität. Das Agieren führt bei
der Borderline-Persönlichkeit zu einer Externalisierung ihrer inneren Landschaft; d.h. daß der Preis für
das Nichtfühlen die Erschaffung des inneren Dramas außen ist. Die Person wandelt die Menschen ihrer
alltäglichen Lebenswelt so um, daß sie den Gestalten ihres inneren Szenarios zu ähneln beginnen.
Dieser Prozeß geschieht in der Phantasie der Borderline-Persönlichkeit, doch er geschieht auch
ansatzweise real, insofern als die betroffenen Menschen tatsächlich zu bestimmten Handlungen gedrängt
werden, die ihnen mehr oder minder nicht entsprechen. Beispielsweise wird eine Frau, die als Tochter in
eine sexuell ausbeuterische Beziehung zu ihrem Vater gedrängt wurde, diese sexuell ausbeuterische
Beziehung mit all ihren dramatischen emotionalen Facetten in ihrem Erwachsenenleben erneut herstellen
und oft so, wie dies ihrem Erleben in der Ursprungssituation entsprach. Es handelt sich dabei natürlich
um einen Wiederholungszwang, doch nimmt der für Borderline-Klienten aufgrund ihrer dramatischen
Kindheitserlebnisse bedrohliche und real selbstdestruktive Ausmaße an. Hinzu kommt, daß es dabei zu
Verwischungen von Raum und Zeit kommt, so daß der Therapeut das überwältigende Gefühl haben
kann, er sei jetzt tatsächlich mit dem Kind zusammen und sei Teil des Kindheitsdramas, während der
erwachsene Klient von einer Begebenheit aus seinem jetzigen Leben erzählt.
Das Weggehen aus dem eigenen Körper hat noch andere Gründe. Zum einen kann sich der Körper sehr
unwirtlich anfühlen, mit vielen unklaren, tauben, kühlen und schmerzhaften Segmenten, die zu fühlen
zunächst sehr unangenehm sein kann. Zum andern ist der Körper einer Borderline-Persönlichkeit
geradezu besetzt von Empfindungen, die der mütterlichen Innenwelt und ihren zugehörigen
Bewältigungsstrategien auf diese Empfindungen entstammen. Der Kontakt damit führt zwangsläufig
wieder in den symbiotischen Wirrwarr hinein und wird daher vermieden. Das Weggehen aus dem
eigenen Körper ist entscheidend dafür verantwortlich, daß es diesen Klienten so schwer fällt, zu sagen,
wie sie sich fühlen, was sie wollen oder was ihre wirklichen Wünsche sind. Es scheint mir daher eine
entscheidende Richtlinie in der Therapie zu sein, alles zu tun, was das Bewußtsein des eigenen Körpers
und die Inbesitznahme der ihm zugehörigen Empfindungen und Emotionen verstärkt.
Dem Weggehen aus dem eigenen Körper entspricht das Weggehen aus dem Hier und Jetzt, so daß sich
im Behandler schnell ein Gefühl einstellen kann, es seien verschiedene Zeitebenen gleichzeitig präsent.
Selbstverständlich äußert sich diese Tendenz zu einer „flüchtigen“ Daseinsweise auch in ganz einfachen
Formen physischer Abwesenheit (Therapieunterbrechungen, längere Fernreisen, Nichterscheinen zu
vereinbarten Terminen etc.).
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Ein weiterer Aspekt dieses Weggehens scheint mir die Tendenz zu sein (vor allem bei Klienten, die
therapeutisch oder esoterisch vorgebildet sind), aus dem Alltag in den Mythos zu entfliehen, also
beispielsweise Reinkarnationstheorien auf die Entstehung von Alltagsproblemen anzuwenden oder
Persönlichkeitsanteile mit großen Gestalten aus religiösen Mythologien (etwa: Teufel) zu bezeichnen,
was ihnen einen höchst bedrohlichen Charakter verleihen kann.
Schließlich sei noch eine besondere Form erwähnt, mit der eine Borderline-Persönlichkeit den nahen
Kontakt vermeidet, der durch das empathische Verstehen des Therapeuten entstehen könnte. Seine
Empathie wird oft inhaltlich destruktiv, im Ton aggressiv-vorwurfsvoll abgeschmettert. Äußert der
Therapeut beispielsweise Verständnis dafür, daß der Klient in einer bestimmten Situation wütend
geworden ist („Das kann ich gut verstehen, daß dich das sauer gemacht hat …“), so könnte eine typische
Antwort lauten: „Ach, du denkst ja auch nur, daß ich alles kaputt schlagen will und am besten verboten
gehöre …“ Entscheidend ist, daß der Klient offenbar auch das kurze Gefühl des Zusammenseins, das
sich im Annehmen eines empathischen Angebots einstellt, nicht ertragen kann und daher reagiert, als
wäre er bedroht.
Schlußbemerkungen
Eine Kernthese des vorliegenden Aufsatzes ist, daß der Borderline-Klient aufgrund seiner symbiotischen
Funktionsweise, die von vielen Spaltungen durchsetzt ist, dazu tendiert, den Therapeuten in seine
symbiotische Lebenswelt hineinzuziehen und ihn quasi zu einer früheren Figur seiner Lebensgeschichte
umzuwandeln. Dies ist ein Prozeß, der sich nicht nur im psychischen Binnenraum des Klienten abspielt,
sondern auch der Zwischenraum zwischen Klient und Therapeut sowie der Innenraum des Therapeuten
werden davon affiziert. Die Art und Weise, in der dies geschieht, kann therapeutisch fruchtbar werden,
wenn der Therapeut sich auf die Emotionen und Bilder, die durch die interpersonelle Felddynamik
hochgeschwemmt werden, einlassen kann und sich in einem zweiten Schritt die Mühe macht, diese im
Lichte der Lebensgeschichte des Klienten zu verstehen und von eigenen Prozessen zu trennen. In
diesem Bemühen kann der Therapeut seine unabhängige Identität zurückgewinnen, die sich in der quasi-
symbiotischen Felddynamik zeitweise aufgelöst hatte. Diesen zweiten Schritt immer wieder zu vollziehen
und an der Wiederherstellung eines eigenen angenehmen psychischen Gleichgewichts zu arbeiten,
scheint mir ein Hauptteil der therapeutischen Arbeit mit einem Borderline-Klienten zu sein. Bei diesem
Schritt kann der Therapeut immer wieder Neues über seine eigenen tief unbewußten Schichten erfahren;
das kann das Erschreckende aber auch der Segen dieser Klienten sein.
Literatur
Aalberse, Maarten, Die schwarze Nacht der Seele, in: Energie und Charakter, 21, Nr.2 1990, 22, Nr.3
und 4, 1991
American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical Manual, 3rd ed., (DSM III), Washington 1980
Cashdan, Sheldon, „Sie sind ein Teil von mir“ – Objektbeziehungstheorie in der Psychotherapie, Köln:
EHP, 1990
Chessik, R.D., Intensive Psychotherapy of the Borderline-Patient, New York: Aronson, 1977
Freudl, Peter, Der Borderline-Klient im therapeutischen Setting und der Beitrag der Biodynamik,
unveröffentlichtes Manuskript, Hamburg 1992
Kernberg, Otto F., Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, Frankfurt am Main: Suhrkamp,
1983
Kirsch, Sander, Du, Ich und Sie, in: Bernhard Maul (Hrsg), KörperPsychoTherapie, 204-216, Berlin 1992
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Lowen, Alexander, Der Verrat am Körper, Reinbek: Rowohlt, 1980
Mahler, Margaret S., Studien über die ersten drei Lebensjahre, Frankfurt am Main: Fischer, 1992
Masterson, James, Psychotherapie bei Borderline-Patienten, Stuttgart: Klett-Cotta, 1980
Rohde-Dachser, Christa, Das Borderline-Syndrom, Bern: Hans Huber, 1983 (3.Aufl.)
Schwartz-Salant, Nathan, Die Borderline-Persönlichkeit, Olten: Walter, 1991
Stauss, Konrad, Die stationäre transaktionsanalytische Behandlung des Borderline-Syndroms,
Grönenbach 1988
Weltgesundheitsorganisation (WHO), Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD 10, Kapitel
V (F), Bern: Hans Huber, 1991