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von Peter Freudl
1. Einleitung ………………………………………………………………………………….. Seite 4
1.1 Veränderungen der Psychoanalyse: die Beiträge der ……………………… Seite 4
Objektbeziehungstheorie
1.1.1 Forschungsgegenstand und Begrifflichkeit …………………………………….. “ 4
1.1.2 Nosologie und die Haltung zur Gegenübertragung ………………………….. “ 5
2. Die Diagnose der Borderline-Struktur …………………………………………….. “ 7
2.1 Die Symptomatologie aus psychiatrischer Sicht …………………………….. “ 7
(DSM III, ICD 1O)
2.2 Die Symptomatologie aus psychoanalytischer Sicht ……………………… “ 9
3. Die Genese des Syndroms …………………………………………………………. “ 10
3.1 Was ist Spaltung und wie wirkt sie sich aus? ……………………………….. “ 10
3.1.1 Widersprüchliche Erfahrung als Grundbedingung ………………………….. “ 10
3.1.2 Die aktive Rolle des Kindes im Umgang mid seiner Lebenswelt ……… “ 11
3.1.3 Positive und negative Ich-Kerne und die Rolle der Symbiose ………….. “ 11
3.2 Identitätsdiffusion: der chaotische Kern des Borderline-Syndroms …… “ 13
3.2.1 Die Wirkung unklarer und widersprüchlicher Elternbotschaften…………. “ 13
3.2.2 Zerrspiegelungen und das Selbstbild der Borderline-Persönlichkeit …. “ 14
3.2.3 Zerrspiegelung und Wiederannäherungsphase ……………………………… “ 14
3.2.4 das Masterson-Modell ………………………………………………………………….. “ 15
3.2.5 Die Rolle der Liebe des Kindes ……………………………………………………… “ 16
3.3 Welche Rolle spielen die einzelnen Entwicklungsstufen …………………… “ 17
in der kindlichen Psychosexualität für die Genese einer Borderline-
struktur?
3.3.1 Reunion: von der physiologischen zur psychologischen Symbiose …… “ 17
3.3.2 Orale Phase: der orale Vampir ……………………………………………………….. “ 21
3.3.3 Anale Phase: der sadomasochistische Clinch ………………………………….. “ 22
3.3.4 Exkurs: Die präödipale Dreiecksbeziehung, die Rolle des Vaters und
das Vaterbild …………………………………………………………………….. “ 24
3.3.5 Ödipale Phase ………………………………………………………………………………. “ 25
4. Die Beziehungsdynamik im therapeutischen Setting mit einem
Borderline-Klienten ………………………………………………………………………… “ 28
4.1 Unvollständige Übersicht über die wichtigsten Gegenübertragungs-
formen beim Borderline-Klienten ……………………………………………………… “ 28
4.2 Übertragungen bei einer Borderline-Struktur ……………………………………… “ 31
4.3 Diskussion: Übertragung/Gegenübertragung und/oder reale Felddynamik “ 32
4.4 Typische Beziehungssituationen als entscheidende Kernsituationen in
der Therapie …………………………………………………………………………………… “ 34
4.4.1 Das Fehlen von Kontinuität und Kohärenz und das „Lesen“ des
Therapeuten ……………………………………………………………………………………. “ 34
4.4.2 Das Fehlen eines wohlwollend realistischen Selbstbeobachters …………… „35
4.4.3 Das verborgene Dreieck in der therapeutischen Dyade …………………………
4.4.4 Feindseligkeit und Nähe: „Ich hasse dich, verlaß mich nicht“. ……………….. “
4.4.5 Die spezifischen Formen des „Weggehens“ …………………………………………
5. Die Möglichkeiten biodynamischer Arbeit mit einem Borderline-Klienten …
5.1. Energie, Körper und die Bedeutung von Berührungen ……………………………
5.2 Therapeutische Haltungen und die Bedeutung der Präsenz ……………………
5.3 Möglichkeiten und Grenzen biodynamischer Techniken bei einer Border-
line Persönlichkeit ……………………………………………………………………………..
5.4 Anmerkungen zur Wichtigkeit des Beziehungsgeschehens in der
Borderline-Therapie ……………………………………………………………………………
6. Eine Schlußbemerkung ……………………………………………………………………….
7. Literaturverzeichnis ……………………………………………………………………………
1. Einleitung
Ich möchte in diesem Artikel Gedanken zu einem Kliententypus beschreiben, der mir
immer wieder große Schwierigkeiten bereitet hat und weiterhin eine Herausforderung
darstellt.: die sogenannte Borderline-Persönlichkeitsstruktur. Auch alle KollegInnen,
die ich kenne, scheinen ähnliche gravierende Probleme mit diesem besonderen Typus
zu haben. Schwierig scheint vor allem zu sein, daß sie die heftigsten Gegenuebertra-
gungsgefühle im Therapeuten auszulösen imstande sind, als da sind: Traurigkeit,
starke Wut, Verzweiflung und ein Gefühl der Sinnlosigkeit, Hilflosigkeit, Verwirrung
und Unsicherheit, Selbstzweifel und Schuldgefühle und so weiter. Und diese Gefühle
können im Verlauf der Therapie immer wieder auftreten, über Monate4 und Jahre hin-
weg. Außerdem neigen sie dazu, den Therapeuten direkt anzugreifen, und sie tun dies
in einer aggressiven Form, die weh tut, weil sie oft einen wunden Punkt des Therapeu-
ten trifft.
Diese offene Feindseligkeit kann über lange Zeiträume bestehen bleiben, während sie
weiterhin zur Therapie erscheinen. Der Ausdruck ihrer Gefühle scheint ihnen wenig zu
nützen, sondern macht sie oft noch aufgelöster, ängstlicher oder resignierter. Im Ge-
spräch mit diesen Klienten treten Widersprüche, Brüche und Gedankensprünge auf,
die höchst verwirrend sind. Außerdem stellt sich in der Therapie mit ihnen kaum ein
Gefühl einer kontinuierlichen Entwicklung ein.
Warum diese und weitere Probleme, auf die ich unten eingehen werde, so intensiv und
hartnäckig waren, blieb mir zunächst ein Rätsel. Da sich ein spontanes Verständnis
darüber, wie diese Menschen dachten, fühlten und handelten, bei mir einfach nicht ein-
stellen wollte, suchte ich Rat in der einschlägigen, vor allem analytischen Literatur, in
der die innere Dynamik dieses Klientel inzwischen gut beschrieben ist. In dem vorlie-
genden Papier versuche ich, den jetzigen Stand meiner Gedanken als körperorientier-
ter Therapeut und Biodynamiker vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Theorie-
entwicklung zu beschreiben.
1.1 Veränderungen der Psychoanalyse: die Beiträge der Objektbeziehungstheorie
1.1.1 Forschungsgegenstand und Begrifflichkeit
In der Psychoanalyse hat sich in den letzten Jahrzehnten ein tiefgreifender Wandel
vollzogen. Während in Freuds Tagen die triadische Struktur (Mutter-Vater-Kind) und der
Ödipus-Komplex Dreh- und Angelpunkt der theoretischen Betrachtung war, rückte mit
der Zeit die dyadische Mutter-Kind-Beziehung als prägendes Schema aller späteren
Beziehungen mehr und mehr in den Mittelpunkt. Gleichzeitig veränderte sich das theo-
retische Interesse und die damit verbundene Begrifflichkeit: während zu Freuds Zeiten
das Augenmerk auf das Strukturmodell der Psyche (mit Ich, Es und Über-Ich) gerichtet
war, in dem es um die Vermittlung diverser Triebansprüche in einem psychischen Bin-
nenraum ging, hat sich der Blick verschoben auf die Beziehungswelt, die Zusammen-
hänge sogenannter Selbst- und Objektrepräsentanzen (d.s. relativ stabile Bilder von
sich selbst oder anderen Menschen bzw. Gegenständen) und deren Rolle bei der Ent-
wicklung der Ich-Identität.
Wegweisend waren dabei die Erkenntnisse von M. Klein, R. Spitz, M. Mahler, die über
die direkte Beobachtung der frühen Entwicklung von Kindern gewonnen wurden. Andere
wesentliche Einflüsse entstammen der Ich-Psychologie Hartmanns und den Arbeiten
von E. Jacobsen, W. Fairbairn, M. Balint, D. Winnicott, H. Kohut und O. Kernberg. Die
meisten erwähnten Forscher werden als Anhänger der sogenannten Objektbeziehungs-
theorie beschrieben, die als einheitliche Schule so gar nicht existiert. Gemeinsam
scheint jedoch allen zu sein,
– daß psychische Störungen als Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen
betrachtet werden und
– daß die früheste „Objekt“-beziehung – die Beziehung zur Mutter – die herausragende
Bedeutung dafür hat, ob die Entwichlung eines Kindes günstig oder ungünstig ver-
läuft
– daß diese früheste Beziehung gleichsam die Schablone, den Erwartungshorizong, für
alle späteren Beziehungen bestimmt
– und „schließlich scheinen alle Objektbeziehungstheoretiker eine tief im Selbst wirk-
same Dynamik von Gut und Böse anzunehmen“ (Cashdan, S. 41 f).
1.1.2 Nosologie und die Haltung zur Gegenübertragung
Damit eng verknüpft hat sich eine Wandlung der diagnostischen Präferenzen vollzo-
gen: Narzißtische und Borderline-Störungen, die als pathologische Entwicklungen des
Selbst gesehen werden, tauchen als nosologische Basiskategorien immer wieder auf
und beherrschen seit geraumer Zeit die theoretische Diskussion.
Parallel dazu hat sich auch die Haltung zur Gegenübertragung verändert. Galt die
früher als unerwünschte Reaktion des Analytikers, die aus seinen eigenen ungelös-
ten psychosexuellen Konflikten herrührte und die Analyse als eine Störung behinderte,
so werden jetzt Gegenübertragungsgefühle mehr und mehr als notwendige und frucht-
bare Bestandteile des Therapieprozesses gesehen. Es scheint sich so eine Sichtweise
durchzusetzen, die mit Gegenübertragung „die emotionalen Reaktionen der Therapeu-
ten als Antwort auf das Verhalten des Kleinten in der therapeutischen Situation“ (Cash-
dan, S. 197) meint. Der Begriff schließt Gefühle aus, die durch irgendein Ereignis im
Leben des Therapeuten hervorgerufen wurden, beispielsweise seine Verärgerung
über einen Verkehrsstau, in den er geraten ist. Emotionale Reaktionen des Therapeu-
ten sind ein unvermeidliches Produkt der Begegnung zwischen Klient und Therapeut.
Sie können dann genutzt werden, wenn der Therapeut sich erlaubt, seine mit dem Kli-
enten erlebten Gefühle wirklich zu fühlen und die in diesem Gefühl enthaltene Infor-
mation für diagnostische Zwecke oder Handlungsanweisungen zu nutzen. Wenn der
Therapeut sich also beispielsweise in der Sitzung abgeschnitten und ausgeschlossen
fühle, dann könnte er dies als Indiz dafür nehmen, wie der Klient seine Beziehung zu
ihm aufbaut und sich fragen, ob dies zum Muster erlernter Objektbeziehungen seines
Klienten hinzugehört, was in eine „Übertragungsintervention“ (Downing, siehe unten)
münden könnte. Wichtig ist dabei, daß der Therapeut nicht seine Gefühle ausagiert,
sondern sie reflektiert, und zwar als mögliche emotionale Bestandteile der frühen Be-
ziehungen seines Klienten. Fühlt der Therapeut etwa Wut in sich, so könnte diese Wut
ein Echo der abgespaltenen Wut des Klienten sein oder eine Spiegelung der Wutge-
fühle einer wichtigen Elternfigur, mit denen der Klient einst konfrontiert war.
Diese Sichtweise, die Gegenübertragung zu fühlen und zu nutzen, habe ich in meiner
Praxis als sehr befreiend erlebt, weil sie mir erlaubt, alle meine Gefühle zu fühlen
und im Hinblick auf den therapeutischen Prozeß wichtig und ernst zu nehmen. Und ge-
rade im Zusammenhang mit Borderline-Klienten, die den Therapeuten in eine verwir-
rende Vielfalt an Gefühlen stürzen können, scheint mir diese innere Erlaubnis uner-
läßlich.
2. Die Diagnose der Borderline-Struktur
2.1 Die Symptomatologie aus psychiatrischer Sicht (DSM III, ICD 1O)
In psychiatrischen Kreisesn war die Borderline-Diagnose ursprünglich reserviert für
Störungen im Grenzbereich (borderline) zwischen Neurose und Psychose. Sie hatte
den Charakter einer Restkategorie, war als Diagnose sehr umstritten und wurde syno-
nym zu einer Vielzahl anderer Bezeichnungen gebraucht. Stauss nennt 15 verschie-
dene Termini, darunter: latente Schizophrenie, subklinische Schizophrenie, ambula-
torische Schizophrenie, Borderline-Charakter, pseudopsychopathische Schizophrenie
und so fort, wobei seine Liste noch unvollständig sei (Stauss 1986). Mit der dritten
Revision ihres Diagnostischen und Statistischen Manuals (DSM III) beschreibt die
American Pszchiatric Association 1980 zum ersten Mal die „Borderline Personality
Disorder“ als eigenständiges psychisches Störungsbild (siehe Kasten 1). Deutlich
wird, daß die Störung in eine größere Distanz zur Psychose gesetzt wird. (Dies ent-
spricht der Gesamttendenz des DMS III, das um Vermeidung diskriminierender Patho-
logisierungen bemüht ist.)
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Kasten 1 „Borderline Personality Disorder“
Die folgenden diagnostischen Merkmale kennzeichnen das gegenwärtige und lang-
fristige Funktionieren eines Individuums. Sie beschränken sich nicht auf Krankheits-
episoden und verursachen entweder deutliche Beeinträchtigungen im sozialen und
beruflichen Bereich oder subjektive Beschwerden.
A. Mindestens fünf der folgenden Merkmale müssen vorliegen:
1. Impulsivität oder Unberechenbarkeit in wenigstens zwei Bereichen, die po-
tentiell selbstschädigend sind, z.B. Verschwendung, Sexualität, Glücksspiel,
Drogengebrauch, Ladendiebstahl, übermäßige Nahrungsaufnahme, körperlich
selbstschädigende Handlungen.
2. Ein Musten von instabilen und intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen,
z.B. auffallende Einstellungsverschiebungen, Idealisierung, Entwertung, Mani-
pulation (durchgängig andere Menschen für die eigenen Zielsetzungen benut-
zen).
3. Unangemessener, intensiver Ärger oder mangelnde Kontrolle des Ärgers, z.B.
häufige Wutausbrüche, dauernde Gereiztheit.
4. Eine Identitätsstörung, die sich als Unsicherheit in verschiedenen Formen aus-
drückt, die mit der Identität zusammenhängen, wie das Selbstbild, die Ge-
schlechts-Identität, langfristige Zielsetzungen oder die Berufs- und Freund-
schaftsmuster, Werte und Loyalitäten, z.B. „Wer bin ich“, „Ich komme mir vor,
als wäre ich meine Schwester, wenn ich gut bin“.
5. Affektive Instabilität: Auffallendes Schwanken von normaler Gestimmtheit zu
Niedergeschlagenheit, Reizbarkeit oder Angst; Dauer gewöhnlich einige Stun-
den und nur selten mehr als einige Tage, und Rückkehr zu normaler Gestimmt-
heit.
6. Kann Alleinsein schwer ertragen: z.B. krampfhafte Anstrengungen, Alleinsein zu
vermeiden; niedergeschlagen, wenn allein.
7. Körperlich selbstschädigende Handlungen, z.B. suizidale Gesten, Selbstver-
stümmelungen, häufige Unfälle oder körperliche Auseinandersetzungen.
8. Chronische Gefühle von Leere und Langeweile
aus: American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical Manual, DSM III,
Washington 1980
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In der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“ der Weltgesundheitsorga-
nisation (WHO), die 1991 in zehnter Revision erschienen ist, wird der Borderline-Betriff
ebenfalls zum ersten Mal als Kategorie, hier als sehr eng umschriebener „Borderline-
Typus“ eingeführt. Er wird im Kapitel „F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ aufgeführt, im
Unterabschnitt „F6O Spezifische Persönlichkeitsstörungen“ und hier
wiederum als eine Ausprägungsform der „F6O.3 emotionale(n) instabile(n) Persönlich-
keitsstörung.“
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Kasten 2 Der „Borderline-Typus“ in der Sicht der WHO
„Eine Persönlichkeitsstörung mid deutlicher Tendenz, Impulse auszuagieren ohne Be-
rücksichtigung von Konsequenzen und wechselnder, launenhafter Stimmung. Die Fä-
higkeit vorauszuplanen ist gering, und Ausbrüche intensiven Ärgers können oft zu ge-
walttätigem und explosiblem Verhalten führen; dieses Verhalten wird leicht ausgelöst,
wenn impulsive Handlungen von anderen kritisiert oder behindert werden. Zwei Er-
scheinungsformen dieser Persönlichkeitsstörung können näher beschrieben werden,
bei beiden finden sich Impulsivität und mangelnde Selbestkontrolle“.
Als erste Erscheinungsform wird dann der sogenannte „impulsive Typus“ beschrieben,
der vor allem durch „mangelnde Impulskontrolle“ und Tendenz zu „bedrohlichem Ver-
halten“ charakterisiert sei. Unter „F6O.31“ findet sich dann der „Borderline-Typus“:
„Einige Kennzeichen emotionaler Instabilität sind vorhanden, zusätzlich sind oft das
eigene Selbstbild, Ziele und „innere Präferenzen“ (einschließlich der sexuellen) unklar
und gestört. Die Neigung zu intensiven, aber unbeständigen Beziehungen kann zu
wiederholten emotionalen Krisen führen mit Suiziddrohungen oder selbstschädigenden
Handlungen (diese können auch ohne deutliche Auslöser vorkommen).“
aus: Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer Störun-
gen, ICD-1O, Kapitel V (F), Bern (Huber Vlg), 1991, S. 215
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Überfliegt man die genannten deskriptiven Kriterien, vor allem die des DSM III, so bin
ich sicher, daß diese auf einen nicht geringen Prozentsatz der heutigen Klientel einer
psychotherapeutischen Praxis zutrifft.
2.2 Die Symptomatologie aus psychoanalytischer Sicht
Folgende Symptome werden als typisch für die Borderline-Persönlichkeit erachtet:
„chronische, frei flottierende Angst; multiple Phobien, v.a. körperlicher Art (Errötungs-
phobien, Angst vor öffentlichen Auftritten, Angeschautwerden), verbunden mit Beschä-
mungsängsten; Zwangssymptome; Zwangsgedanken hypochondrischen und parano-
iden Inhalts können Ich-synton…. erlebt werden; multiple, bizarrre Konversionssymp-
tome….; dissoziative Reaktionen (Traum- und Dämmerzustände, schwere Depersonali-
sationserlebnisse); Depressionen (nach Zusammenbruch eines grandiosen Selbstbil-
des Gefühle von Hilflosigkeit und ohnmächtiger Wut); polymorph-perverse Sexualität
(mehrere perverse Züge mit Instabilität von Beziehungen); vorübergehender Verlust
der Impulskontrolle (Alkoholismus, Kleptomanie, episodische Freßsucht, Drogendurch-
brüche), die nach dem Exzeß als Ich-fremd erlebt werden; meist mehrere Beziehungen;
aggressive Entwertung, Manipulation, Kontrolle – dann unterwürfige, gefügige Anpas-
sung; häufig difffuse Beschwerden mit Leere, Sinnlosigkeit, Orientierungslosigkeit,
Arbeitsstörungen, Kontaktängsten, sexuellen Störungen, Bindungs- und Trennungs-
ängsten, Angst vor Autoritätspersonen, (diffuse) psychosomatische Beschwerden….“
(Klußmann, S. 96).
3. Genese des Syndroms
Um das Beziehungsgeschehen, in das eine Borderline-Persönlichkeit verwickelt ist
und in das sie den Therapeuten verstricken kann, diskutieren zu können, ist es notwen-
dig, sich die Genese der Borderlinestörung und den eigentümlichen Prozeß der Spal-
tung näher anzuschauen, der als Hauptabwehrmechanismus dieses Klienten gilt.
3.1 Was ist Spaltung und wie wirkt sie sich aus?
Spaltung meint als Abwehrmechanismus das aktive Auseinanderhalten von zwei Be-
wußtseinsinhalten, die sich widersprechen bzw. gegenseitig ausschließen. Beispiels-
weise könnte ein Klient sich in sehr lobender Form über einen Bekannten äußern und
nahezu im selben Atemzug sehr schlecht über diesen Menschen reden. Die beiden
Vorstellungen über diesen Bekannten scheinen unverbunden parallel zu existieren.
Versuchet man, diesen Klienten auf einen Widerspruch hinzuweisen, so erntet man
häufig fast empörtes Unverständnis. Und das Welterleben eines Borderline-Klienten
scheint von dieser Tendenz zu schwarz oder weiß bei fehlenden Zwischentönen ge-
kennzeichnet. Andere Menschen sind in dieser Sicht entweder nur gut oder nur böse,
die daher unbedingte Liebe oder vernichtenden Haß verdienen.
Aber auch das Selbstbild eines Borderline-Klienten leidet an den Verzerrungen unter
dem Diktat der Spaltung: so springt dieses Bild von großartigen, grandios überhöhten
Selbstvorstellungen zu Phantasien grauenhafter und quälender Minderwertigkeit, die in
ihrer Gnadenlosigkeit oft erschreckend sind. Schließlich ist auch das Mutterbild in ex-
treme Gegensätze getrennt: dem Bild einer strahlend hellen, nährenden und schützen-
den guten Fee steht das Bild der bösen Hexe gegenüber, die bedrohlich dunkel ist,
heimtückisch, verführerisch und zum Verrrat neigt. In der nüchternen Sprache der Ob-
jektbeziehungs-theoretiker heißt das, daß die Selbst- und Objektrepräsentanzen ge-
spalten sind.
3.1.1 Widersprüchliche Erfahrung als Grundbedingung menschlicher Existenz
Es wird vermutet, daß auch das existentielle Erleben in der frühesten Lebensspanne
eines Menschen durch zwei getrennte Erfahrungsweisen charakterisiert ist. Die ersten
Erfahrungen sind entweder befriedigend oder unbefriedigend, d.h. sie führen zu Lust
oder Unlust. Gut sind warmer, liebevoller Körperkontakt, Fülle, verläßliche Präsenz der
Bezugsperson, Gehaltenwerden. Winnicott faßt alle diese Qualitäten in seinem weiten
Begriff „holding“ zusammen. Schlecht sind Leere, Abwesenheit und/oder Kühle, Allein-
gelassen-werden, kein Körperkontakt, Mangel an affektiver Zufuhr, Feindseligkeit, cha-
otisch-unvorhersehbares Verhalten und starke Stimmungsschwankungen der Pflegeper-
son.
Zwei Aspekte scheinen mir dabei wesentlich. Erstens ist hervorzuheben, daß das Er-
leben guter und schlechter Erfahrungen zur natürlichen Entwicklung eines Kindes hin-
zugehören, da keine Mutter/primär versorgende Person in der Lage ist, alle Bedürf-
nisse eines Kindes zu erfüllen. Sie kann selbst beim besten Willen nicht immer zur
Stelle sein, wenn das Kind es braucht. Frustation gehört somit zu den Grundbedingun-
gen menschlicher Existenz.
Zweitens scheinen die oben genannten Qualitäten (Wärme, Fülle ….) zwar jedem Men-
schenkind zuträglich zu sein und ihre Abwesenheit zu schaden, doch ist auch wesent-
lich, welche Ausstattung das Kind mitbringt, um aus seiner Umwelt Nutzen zu ziehen.
„Besitzt ein Kind diese Fähigkeit nicht, nützen die Bemühungen der Mutter wenig. Man-
chen Kindern kann durch eine ungewöhnliche Anstrengung der Mutter bis zu einem ge-
wissen Grad geholfen werden, aber grundsätzlich ist es das Kind, das bei der Nutzung
dessen, was die Umwelt zu bieten hat, seine Rolle spielen mus. Nach Mahlers eigenen
Worten entfällt der Löwenanteil an Anpassungsprozessen auf das Kind, das sich auf
dem Höhepunkt der Anpassungsfähigkeit befindet.“ (Blanck und Blanck, 1989, S. 33)
Ich zitiere dies, weil ich mit Mahlers Ansicht konform gehe, daß ein Kind nicht als ta-
bula rasa geboren wird, sondern ein spezifisches Reaktionspotential (egal, ob gene-
tisch oder karmisch bedingt) mitbringt, das von früh an mitprägt, welche Außenreize
es erlebt und wie es sie verarbeitet. Seit der Zeit von Bowlby (1958) ist die aktive, ge-
staltende Rolle des Säuglings etwa bei Kontakten durch eine Vielzahl von Ergebnissen
der Interaktionsforschung (vgl. Brazelton & Cramer, 1991) bestätigt worden.
Natürlich ist die Grundsituation des Kindes in dieser frühen Zeit eine der vollständigen
existentiellen Abhängigkeit. Die Interaktionspartner haben äußerst unterschiedliche
Machtpositionen inne, doch sind sie in der Regel durch ein Band der Liebe verknüpft,
das dafür sorgt, daß das Kind auch in seiner ohnmächtigen und ausgelieferten Position
unversehrt und gekräftigt heranwachsen kann. Und diese Bindung scheint auch der Bo-
den zu sein, auf dem das Kind seine notwendigen Frustationen überleben und gar nut-
zen kann. Doch wie geht das Kind nun mit den gegensätzlichen Erfahrungen in seiner
Lebenswelt um?
3.1.3 Positive und negative Ich-Kerne und die Rolle der Symbiose
Diese Lebenswelt ist ja die der symbiotischen Zweieinigkeit, der Mutter-Kind Dyade, in
der das Kind sich so verhält, als bilde es mit der Mutter eine Einheit. Die theoretische
Annahme geht nun dahin, daß es bemüht ist, ein innerlich befriedigendes Gefühl in
seiner Lebenswelt aufrechtzuerhalten und immer wieder versucht, das Beste aus dem
zeitweiligen Auftauchen und Wirken des „Mutterteils“ zu machen, während es gleich-
zeitig unangenehme Erfahrungen mit diesem „Mutterteil“ zu minimieren sucht. Die Mut-
ter existiert in der Lebenswelt des Kindes ja noch gar nicht als eigenständige perso-
nale Einheit, sondern als ein von der jeweiligen Situation abhängiger Wahrnehmungs-
eindruck, dessen Auftreten oder Abwesenheit mit lustvollen oder unbefriedigenden Kör-
perempfindungen verbunden ist. Was einem äußeren Beobachter als Begegnung der
getrennten Einheiten Baby und Mutter (oder Vater) erscheint, ist in der Erlebenswelt
des Babys eher eine innere Situationseinheit, in der Wahrnehmungseindrücke und
Körpersensationen zu Ich- und Objektvorläufern verknüpft werden. Ich vermute, daß die
Behauptung von P. Boyesen, daß das Unbewußte „situational“ sei, im Erleben dieser
frühen Situationseinheiten seine Wurzeln hat.
Aus den guten Erfahrungen, die eine hinreichend gute Bemutterung mit sich bringt, ent-
wickeln sich im Laufe der Zeit positive Ich-Kerne, Frühformen und Bausteine eines sich
herausdifferenzierenden positiven Selbstbilds. Negative Erfahrungen schlagen sich in
negativen Ich-Kernen nieder. „Im Anfang sind die frühen Ich-Kerne voneinander ge-
trennt oder abgespalten. Der zunächst noch fragile, positive Ich-Kern muß sich erst in
Ruhe entwickeln können, bevor er den ängstigenden und destruktiven Kontakt mit dem
negativen Ich-Kern ertragen kann. Zu diesem Zeitpunkt ist die Spaltung absolut natur-
gemäß.“ (Berliner, S. 29)
Aus den Situationseinheiten differenzieren sich also im Zusammenhang mit der kogni-
tiven, motorischen und der Entwicklung der Wahrnehmungsorgane der Babys positive
Ich-Kerne und zugehörige Objektvorläufer (Mosaiksteine der „guten Mutter“) und nega-
tive Ich-Kerne mit zugehörigen „böse-Mutter“-Teilen heraus, die getrennt gehalten wer-
den.
Ein gelungenes Zusammenschwingen der mamatoto, ein Suaheli-Wort für die Mutter-
Kind Dyade, wird als Basis dafür betrachtet, daß alle diese Ich-Kerne sich später zu
einem einheitlichen Gefühl eines Kern-Selbst vereinigen, der Basis einer stabilen Ich-
Identität. Und sie stellt auch die Basis dafür dar, wie der dem Kind innewohnende
Drang, sich aus der Symbiose herauszudifferenzieren, in die Tat umgesetzt wird. Teil
dieses Prozesses ist die allmähliche Konstruktion getrennter Vorstellungsbilder für
Mutter und Kind, also die Bildung von getrennten spezifischen Selbst- und Objektreprä-
sentanzen. Dieses Geschehen ist nach Mahler (M et al, 1975) mit etwa 36 Monaten ab-
geschlossen und mündet im günstigen Falle in die „psychische Geburt“ eines Men-
schen, der sich dann auf den Weg zur Festigung der sogenannten Objektkonstanz
macht. Der Begriff meint die Fähigkeiten,
– eine stabile symbolische Repräsentanz (Objektrepräsentanz) einer engen Bezugs-
person (Mutter) zu bilden,
– sich an diese Repräsentanz bei physischer Abwesenheit (der Mutter) zu erinnern, um
sich weiterhin sicher fühlen zu können,
– die guten und schlechten Erfahrungen mit der Mutter zu einer einheitlichen Vorstel-
lung zu verbinden, so daß die Spaltung überwunden wird; diese Integration bringt die
Fähigkeiten mit sich, anzuerkennen, daß Menschen gut und böse zugleich sein kön-
nen und Ambivalenzen ertragen zu können.
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Kasten 3 Gut und böse: eine Geschichte
Vom Propheten Mohammed wird folgende Begebenheit berichtet: Der Prophet kam mit
einem seiner Begleiter in eine Stadt, um zu lehren. Bald gesellte sich ein Anhänger seiner
Lehre zu ihm: „Herr! in dieser Stadt geht die Dummheit ein und aus. Die Be-
wohner sind halsstarrig. Man möchte hier nichts lernen. Du wirst keines dieser stei-
nernen Herzen bekehren.“ Der Prophet antwortete gütig: „Du hast rcht!“ Bald darauf
kam ein anderes Mitglied der Gemeinde freudestrahlend auf den Propheten zu: „Herr!
Du bist in einer glücklichen Stadt. Die Menschen sehnen sich nach der rechten Lehre
und öffnen ihre Herzen deinem Wort.“ Mohammed lächelte gütig und sagte wieder:
„Du hast recht!“ „Oh, Herr“ wandte da der Begleiter Mohammeds ein: „Zu dem ersten
sagtest du, er habe recht. Zu dem zweiten, der genau das Gegenteil behauptet, sagst
du auch, er habe recht. Schwarz kann doch nicht weiß sein“. Mohammed erwiederte:
„Jeder Mensch sieht die Welt so, wie er sie erwartet. Wozu sollte ich den beiden wider-
sprechen? Der eine sieht das Böse, der andere das Gute. Würdest du sagen, daß einer
von den beiden etwas Falsches sieht, sind doch die Menschen hier wie überall böse
und gut zugleich. Nichts Falsches sagte man mir, nur Unvollständiges“ (aus: Pesesch-
kian, S. 28).
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3.2. Identitätsdiffusion: der chaotische Kern des Borderline-Syndroms
3.2.1 Die Wirkung unklarer oder widersprüchlicher Elternbotschaften
Wichtig für die Konstruktion eines guten/eigenen Selbstbildes sind also die frühen
Körpererfahrungen in der Mamatoto. Eine Erfahrung wird zu einem positiven Baustein
eines guten Selbstbildes, wenn sie als körperlich angenehm erlebt wurde und Mosaik-
stein eines künftigen negativen Selbstbilds, wenn sie im Körper als unangenehm oder
schmerzlich erlebt wird. Wie aber soll das Kind mit den Erfahrungen umgehen, die nicht so eindeutig
sind, die sich widersprüchlich anfühlen? Etwa wenn die Mutter (oder
der Vater) es im Arm hält (gut), aber dabei abweisend und feindselig fühlt (schlecht).
Oder wenn sie sich gerade mit dem Vater gestritten hat und ihre ganze Ausstrahlung
noch von diesem Ärger aufgeladen ist, während ihre Hand das Baby zärtlich streichelt.
Was ist, wenn Mutter das Kind anlächelt, während sie innerlich voller Haß ist, voller
Gleichgültigkeit oder anderer komplizierter innerer Regungen in bezug auf das Kind?
Wie verarbeitet es die Erfahrung, wenn Mutter (oder Vater) das Kind mit einer trostspen-
denden und beruhigenden Gebärde berührt, während das Kind ganz selbst-versunken
und zufrieden spielt, die Mutter jedoch aufgrund von Problemen in ihrem Alltagsleben
voller Angst und Panik ist? Letztere Gebärde ist typisch für die Mutter von Borderline-
Persönlichkeiten, die den Körper des Kindes mit den Empfindungen ihrer Innenwelt und
ihren Bewältigungsstrategien auf diese Empfindungen besetzt. Eine Häufung solcher in
sich widersprüchlicher Erfahrungen dürfte es dem Kind schwer machen, gute und schlechte
Ich-Kerne wirklich getrennt zu halten und es ist vorstellbar, daß ein Großteil
seiner psychischen Energien in die Anstrengung fließt, die kostbare, aufbauende, be-
jahende Energie aus diesen Erfahrungen herauszudestillieren und von negativen Ener-
gien abzuschirmen. Man erinnere sich, daß Borderline-Menschen als Kinder mit „intel-
ligenten und überfütternden“ Müttern zu tun hatten, „die ihre Ängste und die emotionale
Verarmung ihrer Persönlichkeit hinter einer pseudo-gebenden Haltung erfolgreich ver-
bergen konnten“ (Chessik, zit. bei Rohde-Dachser). Die Charakterisierung als überfüt-
ternd, emotional verarmt und pseudo-gebend deutet auf das widersprüchliche Verhalten
dieser Mütter hin.
3.2.2 Zerrspiegelungen und das Selbstbild der Borderline-Persönlichkeit
Chessik weiter: „Diese Haltung verbindet sich mit einer strengen und fast grausamen,
oft nicht verbalisierten Forderung, daß das Kind gemäß ihren Erwartungen heranwach-
sen solle“ (Chessik, S. 26). Das sich entwickelnde Selbstbild des Kindes wächst im
Spiegel des mütterlichen Feedbacks auf seine Lebensäußerungen. Zutreffendes, steti-
ges und zuverlässiges Spiegeln des Kindes durch die Mutter ist das optimale Feld, in
dem eine zuverlässige und stabile Identität sich etablieren kann. Was passiert aber,
wenn dieses Feedback uneinheitlich und verworren ist und sich daraus nur ein chao-
tisches Puzzle unverbundener Fragmente ergibt? Das heißt, daß das Kind mit einer Aufgabe
konfrontiert ist, die etwa eine Person hat, die nur die unterschiedlichsten For-
men, die die Zerrspiegel eines Rummelplatzes von ihr zurückwerfen, sehen kann und
daraus ein wirklichkeitsgetreues Bild von sich entwerfen soll.
Und was ist, wenn die Mutter, die ihr Kind im Arm hält und betrachtet, nur das sehen will, was ihre
Hoffnungen und Träume ihr eingeben? Sieht sie, in Winnicotts Worten,
wirklich das einmalige, hilflose Wesen, oder ihre eigenen Phantasien, Erwartungen,
Ängste und Pläne, die sie auf das Kind projiziert? Geschieht letzteres, so wird die
Differenzierung eines eigenständigen Ich-Kerns, der später zu einer Ich-Du Begegnung
fähig ist, enorm behindert. Denn das Kind macht sich ja die Reaktionen der Mutter zu-
nutze, um zu wissen, wer es ist. Findet es jedoch häufig nur deren Projektion vor und
keine adäquate Spiegelung, so bleibt sein Selbstbild untrennbar mit dem Wunschbild
der Mutter verschmolzen, sein eigentliches Wesen gleichsam eingesperrt in einen Wust
überlagerter Mutterbilder. Sein Ich-Kern bleibt so konfus, besetzt von verschmol-
zenen Bildern und schockartig zersprengt in einzelne Bruchstücke, ein Zustandsbild,
für das Erikson den Begriff der „Identitätsdiffusion“ geprägt hat.
Das scheint auch das Schicksal einer späteren Borderline-Persönlichkeit zu sein, die
mit jenem „fast grausamen“ Forderungsschwall konfrontiert wird. Über Blicke, Gebär-
den, athmosphärische Veränderungen wird das Kind dazu gebracht, zum „Selbstobjekt“
(Kohut) der Mutter zu werden. Es ist, als ob die Mutter innerlich in ihre mamatoto mit
ihrer eigenen Mutter zurücksinkt, während sie mit ihrem Kind ist. Sie behandelt es als
ihr zugehörigen Teil, als sei es nur eine Verlängerung ihrer selbst, als sei es ein zu-
sätzliches Glied, das im Dienste ihres (Mutter) Körpers steht.
Den erwähnten Forderungen wird offenbar Nachdruck verliehen mit mehr oder minder
subtil vermittelten Drohungen. Die äußerste Drohung ist: wenn du nicht bist/tust, was ich von dir
erwarte, dann existierst du für mich nicht. In dieser Lebensphase ist dies
natürlich eine vernichtende Drohung, die Verlassenheitsgefühle mit Todesängsten kop-
pelt und auch den Boden bereitet für die quälenden Schuldgefühle, an denen erwach-
sene Borderline-Persönlichkeiten leiden.
3.2.3 Zerrspiegelung und Wiederannäherungsphase
Von besonderer Brisanz scheint diese Zerrspiegelung in der Entwicklungsphase der
sogenannten Wiederannäherung zu sein, einer Subphase der von M. Mahler so be-
zeichneten Loslösungs- und Individuationsphase. Sie löst die Übungsphase ab, die
durch Omnipotenzgefühle des Kindes, eine „Liebesaffäre mit der Welt“ (Greenacre) ge-
kennzeichnet ist. Zusammen mit der Entwicklung und zunehmenden Beherrschung
seiner Motorik und seiner sprachlichen Fähigkeiten treten großartige Unabhängigkeits-
gefühle auf, die im Erscheinen des „dritten Organisators der Psyche“ (Spitz), der Fähig-
keit, Nein zu sagen, gipfeln (um den 18. Lebensmonat herum). Die vermehrten Unab-
hängigkeitsbestrebungen führen jedoch auch dazu, daß das Kind häufiger schmerzlich
mit der eigenen Verletzlichkeit, Hilflosigkeit, Kleinheit und der Begrenztheit seiner Mög-
lichkeiten konfrontiert wird, was auch das Bedürfnis nach der immer noch als allmäch-
tig gesehenen Mutter wieder wachsen läßt.
Der Konflikt zwischen den wachsenden Loslösungstendenzen und dem stärkeren Be-
dürfnis nach Wiederannäherung an den sicheren emotionalen Heimathafen der Mutter
mündet in die Kämpfe der Wiederannäherungskrise um den 2O. Monat herum. Es ist
nun von besonderer Wichtigkeit, wie die Mutter mit den Problemen dieser verletzlichen
Wiederannäherungsphase umgeht und einige Theoretiker sehen hier die eigentliche
Geburtsstunde einer Borderline-Persönlichkeit. Es scheint so zu sein, daß die Mutter
einer späteren Borderline-Persönlichkeit die Bewegung des Kindes von ihr weg als
bedrohlich erlebt und mit einer spürbaren Ächtung bestraft, während sie die Bewegung
zu ihr hin begrüßt und unterstützt. Die Mutter stellt sich also aufgrund eigener Sym-
biosebedürfnisse gegen die machtvollen inneren Entwicklungsschübe, die das Wach-
sen des Kindes vorantreiben, indem sie regressive Rückkehr in die Symbiose belohnt
und Autonomiebestrebungen bestraft.
3.2.4 Das Masterson-Modell
Der Psychoanalytiker J. Masterson hat in diesem Zusammenhang ein recht klares Mo-
dell entwickelt. Seine Sicht einer Borderline-Persönlichkeit nimmt an, daß die Introjek-
tion des eben beschriebenen Beziehungsmusters zu einer Spaltung des Selbstbildes
führt und dieses verewigt. Auf der einen Seite existiere eine „Belohnende Objektbezie-
hungseinheit“, BOT, die regressives, anklammerndes Verhalten belohnt. Zu dieser „Ob-
jektbeziehungseinheit“ (ein Begriff, der die Verschmolzenheit von Kind und Mutter in
einem symbiotischen Interaktionsfeld hervorhebt) gehört eine gute Selbstvorstellung
(das Selbst als gut, passiv, klagend), eine gute Objektvorstellung (Mutter/Welt als ak-
zeptierend, belohnend, freundlich etc.) und ein positiv libidonöser Affekt, der die beiden
Vorstellungen verknüpft.
Aber es kommt auch zur Introjektion der anderen Seite der Mutter: Ihre überhöhten For-
derungen, die Enttäuschungsreaktionen, die Aggressionen, die sich hinter dem Liebes-
und Aufmerksamkeitsentzug und/oder dem enttäuscht/verächtlichen Abwenden verber-
gen, werden ebenfalls verinnerlicht. Diese fügen sich nach Masterson zur „Entziehen-
den Objektbeziehungseinheit“, EOT, zusammen, die kritisch, feindselig und spöttisch
ist, mit Wut reagiert und Zuwendung und Anerkennung entzieht, wenn die Person, die
diese EOT in sich trägt, Selbstbehauptung versucht. Die EOT besteht aus einem schlechten
Selbstbild (das Selbst als untauglich, schlecht, unfähig, hilflos, schuldig,
leer) und einer bösen Objektvorstellung (Mutter/Welt als aggressiv, feindselig etc.). Die
die beiden Vorstellungen verknüpfenden Emotionen sind Wut, Frustration, ein Gefühl
des Verrats und darunter verheerende Verlassenheitsgefühle. Letzteres fächert Master-
son in sechs Komponenten auf, die „sechs Reiter der Apokalypse – Depression, Wut,
Angst, Schuld, Passivität und Hilflosigkeit, sowie Leere und Nichtigkeit“ (Masterson,
S. 46). Masterson schreibt, er habe diese starke Begrifflichkeit (Apokalypse) bewußt ge-
wählt, um die „emotionale Wucht und Destruktivität“ (Masterson, S. 46) dieser Verloren-
heitsgefühle deutlich zu machen. Ein ähnlich eindringliches Bild benutzt Aalberse, der
in Anlehnung an den christlichen Mystiker Johannes vom Kreuz von der „dunklen Macht der Seele“
spricht, die den Betroffenen in schwärzester Verzweiflung gefangen
hält (Aalberse, 1991, übrigens ein sehr lesenswerter Beitrag).
Ich schätze an diesem Modell vor allem seine Einfachheit und die Tatsache, daß Masterson sich mit
seinen Begriffen, etwa Objektbeziehungseinheit, um eine Sprache
bemüht, die der dyadischen Erlebensweise angemessener erscheint. Es scheint mir
allerdings da zu kurz zu greifen, wo es die Borderline-Störung nur als Problem der Los-
lösung aus der Symbiose begreift und nicht auch als Störung der Symbiose selbst. Ich
werde auf die spezifische Problematik des symbiotischen Kontakts einer Borderline-
Persönlichkeit im Abschnitt 3.3 genauer eingehen.
3.2.5 Die Rolle der Liebe des Kindes
Bisher habe ich die Entwicklung einer Borderline-Persönlichkeit vor allem aus einer
Opferperspektive beschrieben. Es ist jedoch wesentlich, auch die aktive Rolle zu sehen, die das Kind
bei der Introjektion der Muttererfahrungen spielt. Denn diese Intro-
jektion ist ja ein aktiver Prozeß, der von der Liebe des Kindes zur Mutter getragen wird.
H. Searles schildert in brillianter Weise, was geschehen kann, wenn die Mutter nicht in
der Lage ist, sich von dieser Liebe berühren zu lassen und sie anzunehmen, sondern
im Gegenteil so reagiert, als würde sie bedroht:
„Die Kindheitsenttäuschung beinhaltet, daß die Mutter wegen ihres niedrigen Selbst-
wertgefühls und ihrer Angst zu lieben, das Kind gerade dann verfehlt, wenn es am nötigsten hätte, sie
als bewundernswert und der Nacheiferung würdig wahrzunehmen.
Sie reagiert auf seine Verehrung mit gesteigerter Angst und vermutlich mit einer Lockerung ihrer
primären Ich-Integration. Das Kind sieht sich auf diese Weise mit einem Objekt für seine
Identifikationsbestrebungen konfrontiert, das wenig Selbstwert-
gefühl besitzt und in irgendeiner Form ich-fragmentiert ist, und das Kind identifiziert
sich mit ihm, mit verheerenden Folgen für sein eigenes heranreifendes Ich.
Es introjiziert sie nicht primär aus Angst oder Haß, sondern aus echter Liebe und Be-
sorgnis für die Mutter, die es bei der genauen Inaugenscheinnahme, die die „Verliebt-
heits“-Phase mit sich bringt, nicht als eine Person vorgefunden hat, die bewunderns-
wert stärker ist als es selbst, sondern bemitleidenswert verkrüppelt, als jemand, der
verzweifelt Entlastung von der Bürde seiner eigenen Persönlichkeitsschwierigkeiten
benötigt. Das Kind introjiziert sie hauptsächlich in der Anstrengung sie zu retten, indem
es ihre Schwierigkeiten, ihr Kreuz auf sich nimmt“ (Searles, S. 576). Und: „Es nimmt sie
auf diese Weise „mit sich“, weil es nicht weiterwachsen kann und diese ich-fragmen-
tierte, hilfsbedürftige Mutter dabei sozusagen auf der Strecke zurücklassen. In der Ana-
lyse enthüllt sich später die Krankheit des Patienten in ihrer tiefsten Schicht als das
liebende Opfer seiner ureigensten Individualität für das Wohlergehen der Mutter, die
echt und altruistisch und mit der tiefen Bewunderung geliebt wird, wie sie unter den ge-
wöhnlichen Umständen des menschlichen Lebens nur ein kleines Kind aufbringen kann“ (Searles, S.
570, zit. bei rd, S. 165 f, Unterstreichungen von mir).
Ich empfinde tiefe Achtung und Berührung vor der Schönheit und Tiefe dieser Sätze.
Und vor allem Searles Beobachtung „des liebenden Opfers der ureigensten Individua-
lität“ ist mir von unschätzbarer Bedeutung für meine wünschenswerte therapeutische
Grundhaltung. Dieser Klient vor mir verhält sich so sonderbar, auch weil etwas in ihm
dieses liebevolle Opfer vollzogen hat. Und gelingt es uns, in Kontakt mit dieser Seite
des Klienten zu kommen, so habe ich immer wieder die tiefsten emotionalen Öffnungen
erlebt, weil der Klient sich von der Wahrheit in Searles Sätzen zutiefst verstanden und
gesehen fühlt. Diese Überzeugung, daß der Verzicht auf Verselbständigung auch das Ergebnis einer
Wahl ist (wenn nicht des Kindes, so doch der Seele, die diesem Kind innewohnt), die auf Liebe beruht,
halte ich für die hilfreichste therapeutische Grund-haltung in der Arbeit mit Borderline-
Persönlichkeiten, an die zu erinnern sich immer wieder lohnt.
3.3 Welche Rolle spielen die einzelnen Entwicklungsstufen der kindlichen Psycho-
sexualität für die Genese einer Borderline-Struktur?
Ich habe mich bisher an die Bezeichnungen der Objektbeziehungstheorie angelehnt, mit denen sie
verschiedene Entwicklungsphasen kennzeichnen. Ich möchte nun die Genese einer Borderline-
Störung im Bezugsraster der Phasenlehre der Libidoentwick- lung aus psychoanalytischer und
körpertherapeutischer Sicht schildern. Aus verschie- denen Gründen beginne ich meine Diskussion
nach der Geburt des Kindes. Das heißt jedoch nicht, daß prä- und perinatale Prozesse für die
Entwicklung einer Borderline-Per- sönlichkeit nicht bedeutsam seien; sie scheinen sogar von
eminenter Wichtigkeit. Doch
scheint mir das wesentliche der pränatalen Probleme – das Scheitern bzw. die aktive Unterbrechung
des energetischen Kontakts – in seinen Grundzügen den unten beschrie- benen Symbiosestörungen
vergleichbar.
3.3.1 Reunion: von der physiologischen zur psychologischen Symbiose
Der Säugling braucht in den ersten Lebenswochen und -monaten ein geborgenes, gleichmäßig-ruhig-
entspanntes Milieu mit reichlich Hautkontakt, um Urvertrauen in sich, die Welt und in diese neue
Seinsweise außerhalb des mütterlichen Uterus zu bilden. Mahler hat diese erste Lebensphase als
„autistische“ bezeichznet, womit sie auf die relativ geringe Ansprechbarkeit für Außenreize des
Neugeborenen hinweisen wollte. Sie ist für die Wahl dieses Terminus, wohl zu recht, kritisiert worden.
Es scheint in- zwischen eine überwältigende Evidenz dafür zu sprechen, daß Neugeborene von
Geburt an auf ihre Umgebung reagieren und mit ihr interagieren (vgl. Brazelton & Cramer, S. 82).
Insbesondere der Sehsinn scheint sehr wach und mit einer großen, angeborenen Vorliebe für ein
„reaktionsbereites, lebendiges Erwachsenengesicht“
(Brazelton & Cramer, S. 72) ausgestattet zu sein, einer Vorliebe, die bereits im Kreiß- saal
nachweisbar und erkennbar ist. „Die Sehfähigkeit des Neugeborenen hat für den Anpassungsprozeß
eine gewaltige Bedeutung: Sie bindet die Mutter an ihr Baby“ (bc, S. 71).
In bezug auf die früheste Entwicklung des Kindes scheint es mir sinnvoller, von ver- schiedenen
Stadien seelischer Verkörperung auf einer Achse Einssein-Getrenntheit zu sprechen: man mag sich
die Zeit vor der Empfängnis als Verweilen in einer kos- mischen Einheit vorstellen. Im vorgeburtlichem
intrauterinen Milieu liegt sicher ein hoher Grad an unmittelbarer somatischer Verschmolzenheit zweier
menschlicher Wesen vor. Man könnte nun von einer physiologischen Einheit sprechen. Diese physi-
ologische Einheit wird durch die Geburt beendet und die Folgezeit scheint von den Be- mühungen des
Säuglings gekennzeichnet, mit den Folgen der physiologischen Tren- nung zurechtzukommen, die für
ein extrauterines Leben notwendigen Wachstums- schritte zu vollziehen und zu festigen und einen
libidinösen Kontakt zur Mutter aufzu- bauen, der im Regelfalle zur Entwicklung einer symbiotischen
Beziehung, also einer psychologischen Einheit (aus der Sicht des Kindes) führt. Man könnte diese
Phase (nach einem Vorschlag von Paul Boyesen) Reunionsphase nennen. Am Ende dieser
Reunionsphase steht also die mehr oder minder geglückte Etablierung einer Mutter- Kind-Symbiose.
Mit Symbiose ist hier der „Zustand der Undifferenziertheit, der Fusion mit der Mutter“ gemeint, in dem
das „Ich“ noch nicht vom „Nicht-Ich“ unterschieden ist und Innen und Außen erst allmählich als
verschieden empfunden werden“ (Mahler, S. 63). Sie ist durch illusorische Vorstellungen einer
gemeinsamen Grenze und Omnipotenz der Dyade, die libidinöse Besetzung der Mutter und eine
stärkere Besetzung der Körper- peripherie des Säuglings gekennzeichnet. Das Wohlbehagen des
Säuglings in der Symbiose scheint nach den Beobachtungen von Mahler am größten zu sein, wenn
„die Mutter dem Säugling unbekümmert erlaubte, sie anzusehen, d.h. Augenkontakt gestat- tete und
förderte, insbesondere während sie dem Kind die Brust (oder die Flasche) gab, mit ihm sprach oder
ihm vorsang“ (Mahler S. 64). M.L.Boyesen hat darauf hingewiesen, daß beim Säugling bliss-Gefühle
im Zusammenhang mit augenscheinlich „meditativen“ Zuständen auftreten könnten, in denen
gleichsam eine „Regression“ in die ursprüng- liche kosmische Einheit stattzufinden scheint (M.L.
Boyesen, 1982).
Höhepunkt der Symbiose und gleichzeitig erstes sichtbares Zeichen einer beginnen- den
Differenzierung ist das Erkennungslächeln, das spezifisch der Mutter gilt. Das Zu- standekommen und
Genießen eines guten symbiotischen Kontakts ist Vorbedingung für die folgenden reifungsbedingten
Loslösungsschritte. Es ist, als ob in diesem ungestör- ten Zusammensein, einem gemeinsamen, stillen
Sein, eine Substanz sich verdichtet, aus der später Vertrauen, Mut und Zuversicht erwachsen. In
Winnicotts Worten: „Man kann es gar nicht nachdrücklich genug sagen, daß alles mit dem Sein
beginnt und daß ohne das Sein das, was das Kind tut oder was ihm widerfährt, keine Bedeutung hat.
Es ist möglich, ein Baby zum Saugen und ganz allgemein zum körperlichen Funktionieren sozusagen
zu verleiten, aber das Baby wird diese Dinge nicht als Erfahrungen wahr- nehmen, solange sie nicht
auf einer gewissen Menge von schlichtem Sein aufruhen, die ausreicht, um jenes Selbst zu etablieren,
das schließlich zur Person wird“ (Winni- cott 1990, S. 24).
Ich glaube, daß in den energetischen Strömen der guten Symbiose gleichsam ordnende und erdende
Prozesse am Werk sind, die die Verkörperung der Seele des Babys ein- laden, steuern und festigen.
Je mehr einfaches körperliches Sein eine Symbiose erlau- ben kann, desto mehr Raum findet die
Seele des Kindes (und auch der Mutter), sich fest im Körper zu verankern und jene inneren
Verbindungen zu schaffen, aus denen später ein sicheres Gefühl innerer Einheit entstehen kann.
Es will mir scheinen, daß diese „gewisse Menge an schlichtem Sein“, die sich im sorg- losen,
stimmigen Zusammenschwingen und -sein erzeugt, bei Borderline-Klienten wenig vorhanden ist.
Eines meiner imaginalen Bilder einer Borderline-Persönlichkeit hat die Gestalt einer Mumie, bei der
viele Schichten an Verbandmaterial um ein großes Nichts/eine dunkle Leere herumgewickelt sind.
Dieses Nichts scheint mir die Folge eines fehlenden Kontakts Seele – Körper zu sein, in dem sich die
mütterlichen Defizite an beseelter, herzlicher Körperlichkeit wiederspiegeln. Es ist als könne die Seele
ihre Sinn- und Einheit stiftende Funktion nicht entfalten, da sie in ihrer verkörperten Form keinen
stimmigen Wiederhall im Körper oder der emotionalen Ausstrahlung der Mutter findet. Körperliche
Nähe mag vorhanden sein, doch es findet kein wirklicher Kontakt statt, so daß das Kernselbst nicht
wachsen kann und die Seele sich mit der Bildung un- zähliger Ersatzmechanismen behilft, die das
Grundproblem symbiotischer Kontakt- losigkeit umhüllen, doch allein nicht lösen können, da dazu die
angemessene Antwort von außen gebraucht wird.
Die Seele braucht menschlichen, körperlichen Kontakt im einfachen Zusammen-Sein, um sich
inkarnieren zu können. Das mag salbungsvoll klingen, doch wie dramatisch sich Störungen dieses
Kontakts auswirken können, ist spätestens seit den Arbeiten von R. Spitz bekannt. Beispielsweise
kann eine „primäre unverhüllte Ablehnung“ des Kindes durch die Mutter in extremen Fällen komatöse
Zustände beim Kind hervorrufen, die für „das Neugeborene lebensgefährdend“ sind (Spitz, S. 223), da
sie sich „in den ersten Lebenstagen als eine Lähmung der Einverleibung“ (d.h. das Kind nimmt keine
Nahrung auf) und später als Erbrechen äußern (S, S. 226). A. Lowen hat auf die große Rolle einer
feindseligen Reaktion auf die Lebensäußerung des Babys, die in diesem frühen Stadium die des
einfachen Daseins, der schieren Existenz ist, bei der Entwick- lung schizoider Störungen
(insbesondere für die Entstehung von Existenz-, Vernich- tungs- und Fragmentierungsängsten)
hingewiesen. Da die Kontaktaufnahme des Babys in dieser Zeit stark über die Augen verläuft,
schlagen sich feindselige oder gar haßer- füllte Blicke der Eltern in erheblichen okularen Blockaden
nieder, die auch das Gehirn des Neugeborenen affizieren können (siehe Reich, Charakteranalyse).
Bei Spitz finden sich noch andere soganannte „psychotoxische Störungen“, die ich hier aufzählen
möchte, weil die erwähnten Symptome allesamt Elemente der Kindheitsge- schichten der mir
bekannten Borderline-Klientel gewesen sind. So gibt es nach Spitz einen Zusammenhang zwischen
„primärer ängstlich übertriebener Besorgnis“ der Mutter und der Dreimonatskolik, zwischen
„Feindseligkeit in Form von Ängstlichkeit“ und Neurodermatitis des Säuglings. „Kurzschlägiges
Oszillieren zwischen Verwöhnung und Feindseligkeit“ der Mutter führte offenbar zu einer
Hypermotilität des Kindes, die sich vor allem durch heftige Schaukelbewegungen ausdrückte, die zur
hauptsächlichen Betätigung wurde. „Zyklische Stimmungsverschiebungen“ der Mütter, die Züge
manisch-depressiver Psychosen trugen, führten offenbar zur Koprophagie (Kotessen) des Kindes.
Eine weitere problematische Verhaltensweise ist „bewußt kompensierte Feindseligkeit“ der Mutter, für
die das Kind ein Objekt exhibitionistischer und narziß- tischer Befriedigung ist, die sich jedoch dieser
Haltung bewußt wird, Schuldgefühle ent- wickelt und „deshalb fortwährend durch eine säuerlich
salbungsvolle Sanftheit….. über- kompensiert (Spitz, S. 277). Dies führt beim Kind zu einer aggressiv
hyperthymen Haltung (überaktiv, wenig gesellig, destruktiv mit seinem Spielzeug, an mitmensch-
lichem Kontakt wenig interessiert, feindselig, wenn man sich annähert) (Spitz, S. 221-278).
Noch dramatischere Folgen hat die Abwesenheit der Mutter bzw. der damit verknüpfte Mangel an
affektiver Zufuhr. Winnicott spricht davon, daß „grobe Versäumnisse im Be- reich des Haltens…..
unvorstellbare Ängste“ hervorrufen können, „die empfunden werden als: 1. Zusammenbrechen, 2.
unaufhaltsames Fallen, 3. vollständige Isolation, weil es keine Möglichkeit der Kommunikation gibt, 4.
Zerstörung der Einheit von Psyche und Soma“ (Winnicott 1990, S. 107). An anderer Stelle spricht
Winnicott auch vom „Gefühl des anhaltenden Sterbens“ und dem Gefühl, „daß Kontakt niemals wieder
möglich sein wird“ (Winnicott ebd., S. 94). Und Spitz beobachtete, daß bei länger an- haltender
Abwesenheit der Mutter (länger als drei Monate) die betroffenen Kinder ernst- haft krank werden oder
sogar sterben konnten. Er beschreibt die einzelnen Wirkungs- stadien so: zunächst tritt (im Gegensatz
zum früheren freundlichen und fröhlichen Be- nehmen des Kindes) eine starke Weinerlichkeit auf,
begleitet von anklammerndem und Zuwendung heischendem Verhalten. Dann geht das Weinen oft in
Schreien über. Es kommt zu Appetit- und Gewichtsverlust und es wird zunehmend schwieriger,
Kontakt zu diesem Kind aufzunehmen. Im dritten Monat der mütterlichen Abwesenheit treten
Schlafstörungen auf, die Infektionsanfälligkeit ist deutlich erhöht. „Dann hörte die Weinerlichkeit auf,
an ihre Stelle trat eine „gefrorene“ Starre des Gesichtsausdrucks. Nun pflegten diese Kinder mit weit
geöffneten Augen dazuliegen oder dazusitzen und abwesendem Ausdruck, wie in einer Betäubung…..
(Spitz, S. 281). Es kommt zur Kon- taktverweigerung, motorischer Verlangsamung, die in Lethargie
mündet und „später können diese Kinder sich selbst aktiv angreifen, indem sie mit dem Kopf gegen
die Gitterstäbe ihres Bettchens schlagen, sich mit den Fäusten auf den Kopf schlagen und sich die
Haare büschelweise ausreißen. Wenn der Entzug total ist, wird der Zustand zum Hospitalismus; der
Verfall schreitet unerbittlich fort und führt zu Marasmus und Tod“ (Spitz, S. 297).
Ich zitiere Spitz Beobachtungen so ausführlich, weil frühe Verlassenheitserfahrungen ein wesentlicher
Bestandteil der Borderline Erfahrung sind. Dabei ist zu beachten, daß die physische Präsenz allein
nicht genügt; entscheidend ist die authentische, warme emotionale Präsenz der Mutter, d.h. daß ein
Mensch trotz physischer Anwesenheit einer anderen Person an gravierenden
Verlassenheitssymptomen leiden kann. Die Basis für die Verwirrung und die dissoziativen Reaktionen
der erwachsenen Border- line-Persönlichkeit scheinen mir in der Unwirklichkeit des als-ob-Kontaktes
zu beste- hen, bei denen die energetischen Fühler des Kindes gleichsam immer wieder ins Leere
stoßen und kein Treffen stattfindet, das die Substanz der Wirklichkeit erst erschafft. Auch die Basis für
das selbstschädigende Verhalten der Borderline-Persönlichkeit scheint mir hier gelegt: bei realer oder
emotionaler Abwesenheit der Pflegeperson fin- den auch die aggressiven Regungen des Kindes
gleichsam keinen Anknüpfungspunkt, mit dem Ergebnis, daß es die Aggressionen sich schließlich
gegen sich selbst wendet. Und jeder Körpertherapeut kennt die Erfahrung mit erwachsenen
Borderline-Persönlich- keiten, daß sie bei aggressiven Ausdrucksübungen dazu neigen, sich in
irgendeiner Form selbst weh zu tun (irgendwo anstoßen, sich unglücklich verrenken etc.).
Schließlich scheint auch eine Symbioseform problematisch zu sein, die eher durch ein Übermaß an
erdrückender Präsenz der Mutter gekennzeichnet ist. Wesentlich dafür ist, daß die Mutter es braucht,
in einer permanenten, ausschließlichen Kommunikation mit dem Baby zu sein, so daß die Beziehung
parasitäre Ausmaße annehmen kann. Mahler
schildert den Fall eines Jungen, Sam, bei dem die überwältigenden Symbioseangebote der Mutter
dazu führten, daß er sich dieser Symbiose schon sehr früh zu entziehen suchte (im 4. und 5. Monat)
und fortan ein Vermeidungsverhalten entwickelte (die Mutter nicht ansehen, nicht reagieren, wenn sie
mit ihm sprach, sie wegstoßen), das in späte- ren Abwehrmechanismen der Spaltung, Verneinung und
Verleugnung wieder auftauchte. Mahler et al. fassen ihre Beobachtungen so zusammen: wenn „auf
Seiten der Mutter Ambivalenz oder Parasitentum in Erscheinung trat, wo sie das Kind bedrängte oder
„er- stickte“, war die Differenzierung in verschiedenen Maßen und Formen gestört. In eini- gen Fällen,
in denen die Mutter ihr eigenes symbiotisch-parasitäres Bedürfnis agierte, statt aus Rücksicht auf das
Kind zu handeln, setzte die Differenzierung nahezu vehe- ment ein“ (Mahler et al, S. 82).
Mütter von Borderline-Persönlichkeiten sind Frauen, die selbst starke Borderline-Züge tragen. Zu
guter Symbiose sind sie daher kaum fähig. Das bedeutet, daß bei jeder Bor- derline-Persönlichkeit
auch Symbiosestörungen vorliegen, der Säugling also eine „Grundstörung“ im Sinne Balints
davongetragen hat, die seine Fähigkeit, aus den spä- teren Reifungsschritten Nutzen zu ziehen,
erheblich beeinträchtigt.
3.3.2 Orale Phase: der orale Vampir
In Hinblick auf die psychosexuelle Entwicklung befindet sich das Kind zu dieser Zeit (die
Differenzierung setzt bei normaler Entwicklung etwa um den 4. Monat ein) in der oralen Phase, in der
bekanntlich die Beziehung zur Mutter sehr stark über das Nähren vermittelt wird. Hier werden
grundlegende Formen und Reaktionsweisen geprägt, wie dieses Kind in Zukunft sich äußere Objekte
einverleiben, hereinnehmen und assimi- lieren wird. Es geht um Aufnehmen und Ertasten, Berühren
und Berührtwerden, Greifen und Begreifen, Nahrung annehmen und genießen.
Es sieht nun so aus, daß die beschriebenen gravierenden Symbiosestörungen zu einer schweren
Beeinträchtigung der Fähigkeit führt, die angebotene Nahrung für sich nutz- bar zu machen, weil
wenig an integriertem Kernselbst entstehen konnte, an das sich die angebotene emotionale Zufuhr
anbinden könnte. Ebba Boyesen hat den Begriff des „oralen Vampirs“ für eine Persönlichkeit geprägt,
die durch Unersättlichkeit und rück- sichtsloses „Aussaugen“ des Energiereservoirs des Gegenübers
charakterisiert ist, dabei selbst jedoch unerfüllt, leer und hungrig zu bleiben scheint. Es ist als ob alle
Zu- wendung und emotionale Energie wie in einem Faß ohne Boden spurlos verschwinden. Der
Begriff scheint mir äußerst treffend gewählt, um den ablaufenden Mechanismus zu beschreiben: der
Vampir ist bekanntlich jenes Wesen, dessen Spiegelbild leer bleibt, die das entscheidende Indiz für
seine unbeseelte Körperlichkeit ist. So wie der Vampir als „untot“ gilt, gibt es auch in der Borderline-
Persönlichkeit untote Bereiche (gestor- bene? noch nicht zum Leben erwachte?), in denen positive,
lebensspendende Energien zunichte werden und keinen Boden finden. Ein trefffendes Bild für diesen
Prozeß findet sich in Michael Endes Darstellung des Nichts in der Unendlichen Geschichte: ein wild
waberndes, nebulöses Niemandsland, das alles, das ihm nahekommt, in einen starken Bann zieht und
in sich hineinsaugt, wo es auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Man kann vermuten, daß es auch in den Müttern zukünftiger Borderline-Persönlichkei- ten solche
untoten Segmente gibt, die die libidinösen Besetzungsenergien, mit denen das Baby sein Band zur
Mutter zu knüpfen sucht, gleichsam aufsaugen und damit (zu- mindest für das Kind) unwirksam
machen.
Es ist bekannt, daß Borderline-Persönlichkeiten in ihrer Kindheit häufig schweren ora- len
Frustrationen ausgesetzt sind. Kernberg spricht von einer damit verknüpften „Ent-
täuschungsaggression“: Ein Übermaß an prägenitaler, vor allem oraler Aggression wird vorwiegend
projektiv verarbeitet und bedingt auf diese Weise eine paranoide Verzer- rung der frühen
Elternimagines, besonders der Mutter“ (Kernber, S. 63). Das bedeutet, daß das nächstfolgende
Stadium, die anale Phase, bereits mit erheblichen aggressiven Hypotheken betreten wird, die die
entscheidenden Individuationskonflikte dieser Zeit in dramatischer Weise verschärfen können.
3.3.3 Anale Phase: der sadomasochistische Clinch
Bekanntlich hat diese Phase (deren Beginn etwa zwischen dem 12. und 14. Lebensmo- nat datiert
wird) viel damit zu tun, wie der spätere Erwachsene mit seiner Aggressivität umgeht, die in dieser
Phase zum ersten Mal spontan und in vermehrter Weise auftritt, und wie er sich zwischen den Polen:
sich beherrschen – sich gehen lassen, etwas bei sich behalten – etwas herausgeben bewegen wird.
Themen wie Selbstbehauptung, Ei- gensinn und Trotz spielen eine Rolle und Kategorien der Zeit,
Ordnung und Sauberkeit erhalten Bedeutung. Zum ersten Mal wird es für das Kind möglich, sich in die
eigene Intimität zurückzuziehen und dies bewußt zu erleben. Auch die Grundlagen der Kreativi- tät
werden hier gelegt: fühlt der Mensch sich später wohl mit seinen Hervorbringungen, hat er Vertrauen
in das, was er produziert und wie er sich „ausdrückt“ oder hält er es zurück? (vgl. Klußmann, S. 12).
Natürlich ist der Bezug zur eigenen Kreativität bei einem Kind, das als Selbstobjekt der Mutter dienen
muß, erheblich gestört, weil die Mutter die Produktionen des Kindes gleichsam als eigene
vereinnahmt. Eine solche Mutter betont, daß das, was das Kind macht, ihr gehört, do daß das Kind
gar nicht in den Genuß kommt, sich als eigenständi- ger Produzent zu erleben. In seinem Selbstbild
erscheint es nicht als jemand, der etwas machen kann. Es ist kaum zu ermessen, welch vernichtende
Wirkung Erfahrun- gen dieser Art auf das sich entwickelnde Selbstvertrauen des Kindes haben. Es
liegt nahe, hierin eine Grundlage für die überwältigenden Hilflosigkeitsgefühle und die Pas- sivität
eines Borderline-Klienten zu sehen, der mit der Bewältigung von Alltagsproble- men konfrontiert ist.
Besonders wichtig für die Entwicklung einer Borderline-Persönlichkeit scheint außer- dem zu sein, daß
die Mutter keine Freude an den lustvollen Tätigkeiten des Kindes zu erkennen gibt, sondern mit
Mißbilligung, Besorgtheit, Ängstlichkeit oder anderen ab- währenden Gefühlen reagiert. Später taucht
das wieder auf als Unfähigkeit, sich selbst Anerkennung für eigene Leistungen geben zu können und
diese für die positive Um- wandlung ihres Selbstbildes zu nutzen und als großer Hunger nach der
echten Freude des Therapeuten.
Die Wiederannäherungsphase nimmt für die „Borderline-Kinder“ eine typische Form an. Dabei
wechselt stark bedrängendes, Zwang auf die Mutter ausübendes Verhalten schnell mit heftigen Wut-
oder Haßausbrüchen gegen die Mutter ab, die durch die Ent- täuschungsaggression der oralen Phase
noch angeheizt werden. Die Ausübung von Zwang scheint dabei dem Zweck zu dienen, die Mutter
wieder in die Position der all- mächtigen Erweiterung des Kindes zu drängen, als wollte das Kind
gewaltsam an den Omnipotenzgefühlen der Übungsphase festhalten bzw. sie jetzt,
entwicklungsmäßig zu spät, erzwingen. (Im Falle des bereits oben erwähnten Sam beschreiben
Mahler et al. seine Übungsphase so: „Die obligatorische Nichtbeachtung der Mutter war überstei- gert.
Trennungsreaktionen und Auftankphänomene fehlten völlig. Er schien auch keinen wirklichen
Stimmungsaufschwung, kein „Liebesverhältnis mit der Welt“ zu erleben“ (Mahler et al., S. 235). Der
Machtkampf mit der Mutter und die heftigen Temperaments- ausbrüche folgen dabei der Logik der
Spaltung, was ihre besondere Intensität verständ- lich macht. Denn bei Objektspaltung kommt es ja
gerade nicht zur Neutralisierung libi- dinöser und aggressiver Energien, was der Wut einer Borderline-
Persönlichkeit diese besondere Schärfe und Unerbittlichkeit verleiht.
„Diese Mechanismen – Ausübung von Zwang gegenüber der Mutter und Spaltung der Objektwelt –
kennzeichnen die meisten Fälle von Borderline-Übertragung“ (M., S. 357). Und sie lassen sich
unschwer im Beziehungsverhalten einer Borderline-Persönlichkeit wiedererkennen, das so treffend als
„sadomasochistischer Clinch“ beschrieben wurde. Was darunter zu verstehen ist, wird genauer im
Abschnitt 4.4 (Typische Beziehungs- situationen …. ) behandelt werden. Einstweilen genügt es,
festzuhalten, daß es auf- grund der beibehaltenen Spaltungsmechanismen (und der von Searles
beschriebenen Prozesse) nicht zu einer festen Ich-Integration kommt, worunter auch die Fähigkeiten
zum containment (Energien in sich zu halten) und zur Selbstbeherrschung leiden, was sich in einer
Tendenz zu unkontrollierbaren Affektdurchbrüchen äußert. Von besonderer Bedeutung ist in dieser
Phase natürlich die Art und Weise, wie die Elternfiguren auf die trotzigen Selbstbehauptungsmanöver,
die Aggressivität, aber auch die expansiven und kreativen Bestrebungen des Kindes reagieren. Im
Falle einer Borderline-Persönlichkeit reagieren sie typischerweise mit Beziehungsabbruch,
Liebesentzug, Lächerlich-
Machen oder anderen drastischen Signalen der Mißbilligung, so daß die Autonomiebe- strebungen
des Kindes schließlich scheitern.
Hierin wird die eigentliche Geburtsstunde der Borderline-Symptomatik gesehen: „ist es beim
Borderline-Klienten sicherlich diese Beschneidung der eigenen Autonomie, die Erfahrung, als
eigenständiges Individuum mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen nicht existieren zu können oder
zu dürfen, die die tiefsten narzißtischen Wunden hin- terläßt und die Selbstachtung dieser Patienten
am nachhaltigsten mindert. Die Erfah- rung der Unfähigkeit zur Entfaltung der eigenen Individualität
verbindet sich untrenn- bar mit dem subjektiven Erleben, daß die eigenen Wünsche und Impulse für
das Kind selbst und für seine Liebesobjekte eine so zuerstörerische Qualität besitzen, daß sie nicht
gelebt werden dürfen. Das Erleben der eigenen Impulswelt fällt dann einem Tabu anheim, das so
elementare Bedürfnisse wie den Wunsch, Liebe zu geben und zu em- pfangen, den Wunsch nach
Bewunderung, Habenwollen, aggressive Triebregungen und expansive Bedürfnisse allgemein und
auch das sexuelle Antriebserleben mitum- faßt“ (Rohde-Dachser, S 169 f)
3.3.4 Exkurs: Die präödipale Dreiecksbeziehung, die Rolle des Vaters und das
Vaterbild
Der Vater war in der Psychoanalyse vor allem der Hüter des Gesetzes, der Vertreter des
Realitätsprinzips, die furchterregende, mit Kastration drohende Gestalt der ödi- palen Phase. Seine
Rolle in den präödipalen Phasen ist erst in jüngster Zeit genauer untersucht worden. Der Vater dieser
frühen Lebensspanne wird gewöhnlich als eine Art Magnet betrachtet, der das Kind gleichsam aus
dem symbiotischen Energiefeld heraus- ziehen und bei seinem Expansionsdrang und seinen
Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützen kann. Er steht in der Regel für abenteuerliche
Ungebundenheit und ero- tische Freiheit und dies zunächst völlig unabhängig davon, inwieweit er über
diese Ei- genschaften wirklich verfügt. Beobachtungen der frühen Interaktionen von Vätern mit ihren
Kindern deuten in diese Richtung: „Väter neigen eher zu lebhaften und animieren- den Spielen. Sie
knuffen und berühren das Baby und steigern auf diese Weise seine Erregung“ (Brazelton & Cramer,
S. 13O). Und: „Väter interagieren und spielen mit ihren Kindern beiderlei Geschlechts in einer mehr
körperlichen, unbeherrschten Art und Wei- se als dies Mütter tun; Schieben, Stoßen, Herumwirbeln,
Kitzeln und andere motorisch-aggressive Verhaltensweisen spielen dabei eine große Rolle ….. “
(Mertens, S. 107). Väter scheinen dabei vor allem den Umgang mit intensiven Affekterfahrungen zu
ver- mitteln.
Der Vater gilt als „Landepunkt“ bei der Bewegung des Kindes weg von der emotionalen Basis: Mutter.
Er ist das erste andere und damit auch faszinierende Objekt. Er gilt als Repräsentant der Welt
außerhalb der mamatoto und außerhalb des Heims. Und er ist wesentlich bei der Schaffung der
häuslichen Athmosphäre beteiligt, die ja stark von der Beziehungsdynamik der Eltern bestimmt wird.
Zahlreiche Untersuchungen haben fol- genden Zusammenhang belegt: „Die Anwesenheit des
werdenden Vaters und seine liebevolle Unterstützung erleichtern es der Frau, in die Mutterrolle
hineinzuwachsen“ (Brazelton & Cramer, S. 55). Natürlich spielt er eine Rolle dabei, wie sicher,
geborgen und angstfrei sich die Mutter fühlen kann und beeinflußt so das emotionale Klima der
symbiotischen Dyade. Auch seine Gefühle zur Dyade wirken unweigerlich auf diese zu- rück.
Eine gute Beziehung zum Vater schließlich ist eine große Hilfe bei den Ambivalenzkon- flikten mit der
Mutter in der Wiederannäherungsphase.
Wie sich die Beziehung zum Vater nun entwickelt, dabei spielt die Mutter eine gewich- tige Rolle, denn
in dieser frühen Dreiecksdynamik hält die Mutter die entscheidenden Fäden in der Hand. „Mütter sind
Torwächter, sie können die Vater-Säuglings-Beziehung intensivieren oder unterdrücken“ (Brazelton &
Cramer, S. 56).
Für die Mutter einer zukünftigen Borderline-Persönlichkeit, die sich durch die Unabhän-
gigkeitsbewegungen des Kindes bedroht fühlt, stellt natürlich auch der Vaterkontakt eine Gefahr dar.
Die typische Lösung für dieses Dilemma beschreibt Masterson so: „Der eheliche Kontakt scheint
häufig darin zu bestehen, daß die Mutter dem Vater er- laubt, von zu Hause fern zu bleiben, solange
der Vater der Mutter die ausschließliche Kontrolle über das Kind überläßt“ (Masterson, S. 52).
Es ist, als ob die Mutter das Tor zum Vater verrammelt und das Kind mit sich so ein- schließt. Und der
typische Vater eines Borderline-Kindes scheint dies nicht nur gesche- hen zu lassen, sondern an der
Barriere mitzuzimmern, indem er die Passivität, regres- siv-anklammerndes Verhalten und die
Unterwerfung des Kindes unter die Gebote der Mutter unterstützt. „Der Vater des Borderline-Kindes
kann irgendeine schwere Form von Charakterpathologie aufweisen, sei dies ein Borderline-Syndrom,
eine narzißtische Störung oder sogar Schizophrenie“ (Mastersonk, S. 51). Er ist in eklatanter Weise
nicht der strahlende Ritter, der das Kind aus den symbiotischen Sümpfen in die klaren und freien
Weiten der Individuation zu ziehen vermag, sondern eher der abwesende Vater und/oder der dunkle,
bedrohliche, riesenhafte Fremde, vor dem das Kind in die Arme der Mutter zurückweicht.
Dabei scheint auch ein anderer Aspekt wesentlich: wenn es stimmt, daß die erste Beziehung
gleichsam die Schablone und den Erwartungshorizont für alle weiteren Be- ziehungen definiert, dann
ist auch bereits die Vaterbeziehung mit erheblichen Hypo- theken belastet. Kernberg spricht hier von
einer „Kontaminierung“ des Vaterbildes durch ursprünglich nur auf die Mutter projizierte Aggressionen
….. Durch die Projektion überwiegend oral-sadistischer, aber auch analsadistischer Impulse wird die
Mutter immer als potentiell gefährlich erlebt; der gleichzeitig bestehende Haß auf die Mutter weitet sich
bald auf den Vater aus, so daß dann später beide vom Kind als bedroh- liches „vereinigtes Elternpaar“
erlebt werden“ (Kernberg, S. 64).
3.3.5 Die genitale Phase
Es ist ein bemerkenswertes Phänomen in der Entwicklung von „Borderline-Kindern“, daß die genitale
Sexualisierung schon sehr früh einsetzt, in der Regel früher als in einer „normalen“
Vergleichspopulation. Das heißt beispielsweise, daß ein Junge be- reits gegen Ende des zweiten
Lebensjahres seinen Penis Bewunderung heischend herumzeigt, ein Verhalten, das sonst erheblich
später auftritt. Kernberg erklärt die vorzeitige Entwicklung genitaler Triebstrebungen mit dem
Bemühen, „von oraler Wut und oralen Ängsten loszukommen“ (Kernberg, S. 64) und sich aus oralen
Abhängig- keitsbedürfnissen auf dem Wege der Verleugnung (beim Jungen) respektive der Ver-
schiebung dieser Bedürfnisse auf den Vater (beim Mädchen) zu befreien. Ein anderer Grund mag in
der mangelnden Triebneutralisierung liegen. Eine Rolle spielen könnte auch eine Sexualisierung der
familiären Interaktionen, in die das Kind hineingezogen wird, und die eine psychosexuelle
Übererregung und den genitalen „Frühstart“ aus- löst. Denkbar scheint auch, daß das Kind in seiner
Bemühung um wirklichen Kontakt, die in seinem bisherigen Leben so oft frustriert wurde, sich nun der
machtvollen geni- talen Energien bedient, um sich einerseits aus den symbiotischen Verstrickungen
zu lösen und andererseits eine Begegnung auf neuer Ebene zu ermöglichen. Diese frühe
Übersexualisierung wird bei den späteren Erwachsenen sichtbar als „eine fokale und diffuse
Erogenität des Körperbildes, die zu den hervorstechendsten Borderline-Merk- malen männlicher wie
weiblicher Patienten gehört“ (Mahler, S. 361).
Beim Jungen ist diese sexuelle Übererregtheit mit überwältigenden Kastrationsängs- ten gepaart.
Sichtbar wird dies in extremer Ängstlichkeit bei kleinen Verletzungen (Schürfwunden etc.) oder großer
Angst vor der Toilette (weil der Penis da so exponiert ist und weggespült werden könnte, oder
ähnliches). Diese Kastrationsangst kann sich bis zur Verstümmelungsangst steigern (vgl. Mahlers Fall
Sy, Mahler, S. 377). In Kern- bergs Sicht erscheint die Mutter dem Jungen als gefährlich und
kastrierend und auch die ödipalen Ängste vor dem Vater werden durch die Projektion prägenitaler
Aggression enorm verstärkt. Der Junge löst das Dilemma, indem er sich gegenüber dem Vater in eine
unterwürfige Position begibt in dem „Bemühen, durch sexuelle Unterwerfung unter den Vater von ihm
letztlich doch noch die oralen Befriedigungen zu erlangen, die von der bedrohlichen und frustrierenden
Mutter versagt worden waren“ (Kernberg, S. 64 f). Diese Konstellation sei nach Kernberg typisch für
die oral orientierte Form männlicher Homosexualität.
Andere Möglichkeiten, die typische Verschränkung prägenitaler und genitaler Strebun- gen zu leben,
bestehen in der Befriedigung oral-aggressiver oder sadomasochistischer Bedürfnisse in
hererosexuellen Beziehungen. Bei starken Symbiosestörungen kann es nach meinen Beobachtungen
auch zu Impotenzphänomenen bei längeren sexuellen Beziehungen kommen, die den Charakter von
Rache (an der frustrierenden Mutter) und Verweigerung (vor der fordernden und verschlingenden
Mutter) haben.
Beim Mädchen kommt es nach Kernberg ebenfalls zu einer vorzeitigen Entwicklung „positiv-ödipaler
Triebstrebungen“ (Kernberg, S. 65). Enttäuscht von der Mutter ver- schiebt es orale Kontakt- und
Nähebedürfnisse auf den Vater, die nun mit genitalen Strebungen durchsetzt werden. Daraus
resultiert später jene eigentümliche Verschrän- kung oraler und genitaler Wünsche, die für das
Gegenüber auch deshalb sehr verwir- rend sein kann, weil oft aggressive Strömungen beigemischt
sind, die der Mutterbezie- hung entstammen, nun jedoch auf den Vater umgelenkt werden. Spätere
heterosexuelle Beziehungen scheitern leicht, weil, nach Kernberg, „orale Wut und oraler Neid den Pe-
nisneid bei Frauen enorm verstärken“ und „zudem die ödipal-verbietende Mutterimago durch die
gefährliche prägenitale Mutterimago überlagert und verstärkt wird“ (Kernberg, S. 65). Als mögliche
Auswege aus diesem Dilemma nennt Kernberg die Flucht in die Promiskuität, die allgemeine
Verstärkung masochistischer Tendenzen, den generellen Verzicht auf Heterosexualität und das Leben
homosexueller Beziehungen, die durch orale oder sadomasochistische Prozesse dominiert sein
können.
Zum Abschluß dieser Diskussion möchte ich darauf hinweisen, daß Erwachsene, die als Kinder Opfer
sexuellen Mißbrauchs wurden, häufig einen Symptomkomplex zeigen, der stark an ein Borderline-
Syndrom erinnert.
4. Die Beziehungsdynamik im therapeutischen Setting mit einer Borderline-Persön-
lichkeit
Borderline-Persönlichkeiten sind Menschen, die in der Lage sind, die heftigsten Gegen-
übertragungsgefühle auszulösen. Dies gilt geradezu als ein differentialdiagnostisches
Kriterium. Aus diesem Grunde möchte ich meine Erörterung des Beziehungsgesche-
hens in der Therapie mit Anmerkungen zur Gegenübertragung einleiten.
4.1 Unvollständige Übersicht über die wichtigsten Formen der Gegenübertragung
auf einen Borderline-Klienten
Schon sehr früh, häufig in der ersten Sitzung bzw. im Erstgespräch treten beim Thera-
peuten starke Gegenübertragungs-Gefühle auf. Das können Wut, Unsicherheit, Angst,
intensive Berührtheit oder andere Gefühle sein, die der Therapeut mit erstaunlicher
Wucht in seinem eigenen Körper erlebt. Zur Einschätzung dieser Gefühle scheint der
folgende Zusammenhang brauchbar: „Je frühzeitiger und heftiger die emotionale Reak-
tion des Therapeuten auf den Klienten ausfällt, desto eher kann man annehmen, daß
man es mit einem schwer regredierten Klienten zu tun hat“ (Kernberg, S. 68). Ich führe
dies darauf zurück, daß der Behandler bei einem schwer regredierten Klienten schnell
in den energetischen Einflußbereich seiner Aura gerät, die bei der Borderline-Persön-
lichkeit so weit und ausgedehnt ist, weil Teile seiner Persönlichkeit gleichsam im Babyalter in ihrer
Entwicklung blockiert wurden (und Babys haben bekanntlich eine
sehr weit ausstrahlende Aura) und weil diese Aura mit Blockaden überfrachtet ist, in
denen Erinnerungsspuren ungefühlter, aber emotional bedeutsamer Situationen trans-
portiert werden. Der Therapeut taucht gleichsam ein in einen energetischen Schwall
ungelebter, körperlos gewordener Emotionen, die nun von ihm und seinem Gefühls-
system Besitz ergreifen.
Ein Effekt, der sich aufgrund dieses beeindruckenden Phänomens ergibt, ist das Ge-
fühl, es werde ein eigentümlicher Zwang auf einen ausgeübt, der den Therapeuten da-
zu bringt, Dinge zu tun oder Sachen zu sagen, die er eigentlich gar nicht will, zu denen
er sich jedoch irgendwie hingedrängt fühlt. Es handelt sich dabei um Reaktionen, mit
denen sich der Therapeut selbst fremd fühlt, die sonst nicht zu seinen Wesenszügen
zu gehören scheinen, oder in denen er sich selbst kaum wiedererkennt. Es ist als laufe
so etwas wie eine energetische Ummodelung ab, in dem die Persönlichkeitsmerkmale
des Therapeuten benutzt werden, um ihn in eine Gestalt umzuformen, die der jeweili-
gen Objektbeziehungs- oder Situationseinheit des Klienten entspricht.
Typischerweise ist dieser Prozeß von starken Unwilligkeitsgefühlen begleitet, einem inneren Sträuben,
dem sich häufig ein schales Gefühl über das Benutztwerden oder Unmut und Wut über das
energetische Besetzt- und Manipuliertwerden beigesellen.
Häufig treten Gefühle der Minderwertigkeit und starker Selbstzweifel auf, etwa in der
Form: „Ich bin das Letzte, eine Zumutung für die Menschheit. Wie kann ausgerechnet
ich mir anmaßen, Therapeut zu sein, wo ich doch ganz und gar schlecht bin und unfä-
hig noch dazu?“ Offenbar erlebt man hier am eigenen Leib die verheerende Wirkung
einer wie auch immer geäußerten Verurteilung (verbal, Gesten, Blicke etc.) des Klienten
durch eine wichtige Kindheitsfigur.
Wie stark diese Phänomene sein können, berichtet K. Stauss, Ärztlicher Leiter der Klinik für
Psychosomatische Medizin Grönenbach. Er schildert, daß häufig das ganze
Therapeutenteam, das mit Borderline-Klienten arbeitet, Angst vor der Öffentlichkeit
habe, weil herauskommen könnte, wie schlecht und inkompetent das Team arbeiten
würde (Stauss 1988, S. 104 f).
Dazu gehört auch das Gefühl eigener Unzulänglichkeit: was immer man selbst zu ge-
ben hat, ist irgendwie nicht gut, reicht nicht aus, ist bestenfalls nicht schädlich. Es
bleibt der Eindruck, daß die Hand, die füttern will, immer wieder gebissen wird. Hier
wirken offenbar das übergroße Mißtrauen, das bei aller Anteilnahme des Therapeuten
eine dunkle Absicht, eine verborgene Forderung, ein damit eingekauftes Wohlverhal-
ten, ein Pseudo-geben vermutet. Ein anderer Aspekt scheint zu sein, daß wirkliches
Verstanden- und Angenommenwerden die Gefahr in sich birgt, mit ihren wahren Gefüh-
len/Bedürfnissen sichtbar zu werden, und damit angreifbar, verwundbar, beschämbar,
schutzlos möglicher Feindseligkeit oder Verspottung ausgesetzt.
Eng damit verknüpft ist ein Gefühl, das sich am ehesten als moralisches Versagen be-
schreiben läßt: Ich sollte eigentlich anders sein bzw. etwas anderes tun; wenn ich nicht
so bin/so handle, bin ich ein schlechter Mensch. Zentral hierbei ist das Wörtchen
„sollte“: es ist, als ob sich in mir ein bedrängender moralischer Imperativ ausbreitet,
an dem ich nur scheitern kann, da er über meine persönlichen menschlichen Möglich-
keiten geht, beispielsweise: Ich sollte mich an alles erinnern, was die Person mir er-
zählt hat; ich sollte ihr endlich so helfen, daß es ihr fundamental besser geht; ich sollte
immer für sie da, zugewandt und interessiert sein, sie umfassend und sofort verste-
hen, ohne daß sie sich erklären muß etc., ansonsten bin ich ein schlechter Mensch,
böse und gemein. Dieser Prozeß steht offensichtlich im Zusammenhang mit der für
den Klient typischen projektiven Identifizierung i.e. eine Projektion, bei der der Empfän-
ger dieser Projektion dazu verleitet wird, sich genauso zu fühlen oder zu verhalten, wie
in der Projektion vermutet wird. Die typische projektive Identifizierung beim Borderline-
Klienten reflektiert die scharfe und extrem polarisierte gut-böse Spaltung, bei der der
Therapeut in ein Wechselbad von Idealisierung und Abwertung getaucht wird und mit
Zuschreibungen konfrontiert wird, die ihm nicht gerecht werden. Es ist, als ob ich nur
die Wahl habe, übermenschlich oder unmenschlich zu sein, als ob es dazwischen nichts gäbe.
Ausgangspunkt des Prozesses scheint die Regression in ein symbiotisches Entwick-
lungsstadium und das folgende Bedürfnis zu sein: „Ich bin vollkommen hilflos. Ich bin
absolut von dir abhängig. Ich möchte, daß du ideal für mich bist. Ich möchte, daß du so
bist wie in meinem Bild meiner „symbolischen Eltern“. Das ist ein Begriff von P. Boyesen, der meint,
daß jedes Kind mit einem unbewußten inneren Wissen darüber
geboren wird, welche Qualitäten seine Eltern haben müßten, um mit ihm in idealer Form
umzugehen. Diese innere Repräsentanz der individuellen idealen Elternfigur nennt P.
Boyesen „symbolische Mutter“ bzw „symbolischen Vater“. Ein wesentliches Charakter-
istikum dieser Idealfiguren ist, daß sie in ihrer Vollständigkeit nie wirklich verkörpert
sein könnnen. Das heißt, daß der Therapeut hier mit Forderungen konfrontiert wird, die
er, selbst wenn er dies mit ganzem Herzen wollte, nie erfüllen könnte. Dennoch wird
der Klient versuchen, den Therapeuten dazu zu verleiten, über sich hinauszuwachsen,
über seine Grenzen und gar die Grenzen des Menschenmöglichen hinauszugehen und
perfekt zu sein.
Und es fühlt sich so an, als ob dieser zutiefst menschliche Mangel an Perfektion, das
unausweichliche Eingeständnis menschlicher Begrenztheit schmerzlich bestraft zu
werden droht. Die metakommunikativ mitgeteilte Einschärfung erlebe ich etwa so:
„Wenn du dich nicht so verhältst wie meine ideale Elternfigur, die du verkörpern solltest, dann bist du
gemein, weil du genau mir nicht gibst, was du eigentlich geben
könntest/weil du nicht so bist, wie du wirklich bist. Das ist fies von dir und ich bin völlig
im Recht, wütend auf dich zu sein“. Das ist die erste Variante, bei der die Person in
Enttäuschungsaggression geht, auch deshalb, weil die Idealisierung ungebrochen
weiterexistiert. Die zweite Variante lautet etwa so: „Wenn du nicht so (siehe oben) bist,
dann bist du nichts wert und verdienst meine Verachtung und meinen Haß“. Diese Ent-
wertung des Therapeuten kann in einer dritten Variante über den völligen Rückzug der
Besetzung verschärft werden: „Wenn du nicht so (s.o.) bist, dann existierst du nicht mehr für mich“.
Diese Position führt entweder zum völligen Beziehungsabbruch (selten) oder wird aufgrund der
starken Bedürftigkeit schnell wieder aufgegeben.
Andererseits fehlt dem Borderline-Klienten jedoch aufgrund seiner traumatischen Er-
fahrungen das Vertrauen, daß die Hilfsangebote des Therapeuten wirklich gut und ehr-
lich gemeint sind. Der Therapeut sieht sich so mit einem eigentümlichen Gemisch
höchster Erwartung und abgründigen Mißtrauens konfrontiert. Es ist als ob der Klient
das Beste vom Therapeuten erwartet, gleichzeitig aber ein Beziehungsklima herstellt,
in dem meine innere Bühne von meinen vermeintlich schlechtesten/dümmsten/unfähig-
sten/dunkelsten Seiten beherrscht wird.
Sicher treten irgendwann auch Aggressionen, zuweilen gar Haßgefühle gegenüber dem
Klienten auf, deren Intensität einen guten Gradmesser abgibt für das Ausmaß an Des-
truktivität, dem der Klient ausgesetzt war. Oft werden diese aggressiven Impulse von
Schuldgefühlen begleitet: „er hat ja recht, ich hasse ihn wirklich, er soll sich verpissen,
auf Nimmerwiedersehn!…. Aber darf ich das denn? Ich bin doch sein Therapeut, der ihm
helfen sollte. Was bin ich nur für ein Mensch….“
Oder der Therapeut sucht Zuflucht zu masochistischen Verhaltensweisen, etwa in der
Art: „Die letzte Stunde war wirklich grauenhaft; so was möchte ich nicht mehr erleben.
Vielleicht, wenn ich ganz nett zu ihm bin und sage, was er von mir hören will, vielleicht
läßt er mich dann in Ruhe und hackt nicht weiter auf mir rum…. aber, der merkt das doch und dann ist
er noch wütender etc.“ Zusätzlich zur Paranoia kann sich dann noch
ein Selbsthaß für die eigene Feigheit einstellen.
Eine weitere Variante möglicher Gegenübertragungen besteht darin, eine missionar-
ische „Heilsbringer“ (Kernberg)-Haltung einzunehmen, die sich auf die Rettung dieses
armen Klienten kapriziert. In dieser Haltung ist oft eine Komponente idealistischer Selbstüberhöhung
enthalten; es handelt sich gleichsam um eine Selbstidentifikation
mit den „symbolischen Eltern“, die natürlich unrealistisch ist, aber dem eigenen Nar-
zißmus gefällt. Diese Haltung ist schon allein deshalb unrealistisch, weil der Therapeut
in seinen Möglichkeiten eben begrenzt ist; seine Zeit steht nicht unbegrenzt zur Verfü-
gung und auch die nüchterne Notwendigkeit der Bezahlung im therapeutischen Setting
verträgt sich schlecht mit einer Heilerattitüde.
Schließlich mag sich der Therapeut vor diesem Klienten zu schützen versuchen, indem
er sich emotional zurückzieht und gegenüber dessen Problemen gleichgültig wird. Da
gerade dieser Klient aber für seine Heilung die emotionale Präsenz und Verfügbarkeit
des Therapeuten als realer Person benötigt, ist diese Haltung der Indifferenz therapeu–
tisch gesehen bestenfalls fruchtlos.
All diese Phänomene stehen natürlich im Zusammenhang mit Prozessen des Klienten,
die im nächsten Abschnitt besprochen werden sollen.
4.2 Übertragungen bei einer Borderline-Struktur
Die Übertragungen eines Borderline-Klienten werden als intensiv, frühkindlich und cha-
otisch beschrieben. Es kann zu Erscheinungen kommen, die die Bezeichnung Übertra-
gungspsychose verdienen: Der Klient verliert die Unterscheidungsfähigkeit zwischen
dem Therapeuten und wichtigen Figuren der eigenen Vergangenheit (nicht „Sie sind wie
meine Mutter“ sondern „Sie sind meine Mutter“. Dieser Prozeß steht selbstverständlich
im Zusammenhang mit der oben beschriebenen Ummodelung des Therapeuten in einen Teil der
Objektbeziehungseinheit, die der Verkennung eine gewisse Plausibilität
verleiht.
Mahler führt die meisten Fälle von Übertragung auf nur zwei Mechanismen zurück:
erstens die Ausübung von Zwang gegenüber der Mutter, die dazu gebracht werden soll,
„als allmächtige Erweiterung des Kindes zu fungieren“ (Mahler, S. 357). Gegenübertra-
gungsgefühle wie die von innerem Sträuben begleiteten Ummodelungen, Minderwertig-
keitsgefühle, Selbstzweifel, Gefühle des moralischen Versagens, aber auch die Heils-
bringerattitüde scheinen damit verknüpft zu sein.
Als zweiten Mechanismus nennt Mahler die Spaltung der Objektwelt. (Die folgende Dis-
kussion lehnt sich eng an die Zusammenfassung des Themas bei Rohde-Dachser an.)
Aufgrund der aktiven Spaltung in ein gutes und ein böses Objekt kann die Übertragung
auf den Therapeuten in kürzester Zeit von positiver zu negativer und wieder zurück springen. Der
Klient kann den Therapeuten als allmächtig-gutes oder sadistisch zer-
störerisches Objekt erleben. Er neigt zu übergroßem Mißtrauen bei gleichzeitigen ma-
gischen Heilserwartungen. Der Therapeut könne den „unbenennbaren Hunger“, das
„existentielle Anliegen“ (Rohde-Dachser, S. 176 ff) des Klienten erfüllen, wenn er nur
wolle. Und diese magischen Qualitäten auch einzusetzen, dazu muß er mit allen Mitteln gezwungen
werden.
Häufig wird das schlechte/böse Objekt auf den Therapeuten projiziert, der dann mit dem bösen
Monster identifiziert wird und als solches genau beobachtet und unbarm-
herzig kontrolliert werden muß, da er nun als Mr. Hyde den Klienten attackieren könnte.
Außerdem bewegt den Klienten die Furcht, daß die eigenen starken Liebes- und Haß-
gefühle zerstörerisch für den Therapeuten seien (wie sie es für ein Elternteil gewesen
wären). Dies ist nicht unbegründet, weil die eigenen Liebesgefühle eine gierig ver-
schlingende Beimischung enthielten und ihr Haß von archaischer Gewalt ist.
Schließlich bewegt den Klienten ein Objekthunger, der zu einer bedingungslosen Iden-
tifikation mit dem Therapeuten führen kann, gleichzeitig existiert jedoch eine große Angst, sich die
Deutungen oder Ansichten des Therapeuten zu eigen zu machen, weil
das als Verlust von Identität gefürchtet wird.
Und es kommt häufig zur Übertragung archaischer innerer Realitäten, bei der auf der
Basis tiefen Materials des Primärprozesses die therapeutische Beziehung in eine
mythologische Dimension gerückt wird.
4.3 Diskussion: Übertragung/Gegenübertragung und/oder reale Felddynamik
Ich achte diese Beobachtungen über die Übertragung sehr und bin diesen Erkenntnis-
sen zu tiefstem Dank verpflichtet, weil sie mir in meiner praktischen Arbeit eine große
Verständnishilfe waren. Dennoch glaube ich, daß die Rede von Übertragungen und
Gegenübertragungen nur zum Teil angemessen ist, weil ihre Basis ein Denken in ge-
trennten Ich-und-Du-Einheiten ist. Und dieses Denken ist offensichtlich der Erlebniswelt
eines Kindes in der präverbalen symbiotischen Phase unangemessen, in der aus der
Perspektive des Kindes ja noch gar kein klares, begrenztes, äußeres Objekt existiert.
Es scheint mir bei Borderline-Prozessen sinnvoll, neben der Rede von Übertragung
und Gegenübertragung eine andere Sprache zu verwenden, die sich auf die Dynamik
von Beziehungen und energetischen Feldern bezieht. Beide Redeweisen scheinen mir
nötig. Die eine betont den Aspekt eines getrennten Individuums, die andere den des Bezogenseins
zweier menschlicher Wesenheiten in einem gemeinsam erschaffenen
Beziehungsraum. Es scheint mir sinnvoll, beide Sichtweisen parallel greifbar und ge-
genwärtig zu halten, auch wenn sie sich auszuschließen scheinen wie die Deutung des
Korpuskels und als Welle.
Eine solche Sicht setzt voraus, daß der Therapeut bereit ist, den Gedanken der thera-
peutischen Distanz und zwischenmenschlichen Getrenntheit für eine gewisse Zeit hintan zu stellen
und seine persönlichen Reaktionen als persönliche und als Wieder-
belebungen der Gefühlsregungen einer wichtigen Person in der Geschichte des Klienten zu sehen.
Der Therapeut erlaubt gleichsam, daß der Erfahrungsraum seiner
eigenen Empfindungen, Gefühle, Phantasien und Bilder zur Bühne wird, auf der sich
Szenen des Beziehungsdramas des Klienten entfalten können.
Und gerade mit Borderline-Klienten fällt dieses Erlauben recht schwer, schon allein
deshalb, weil das Gefühl so stark ist, der Klient habe sich bereits gewaltsam Zugang
zu dieser Bühne verschafft und hielte sie nun besetzt. Und der Sinn des Stückes, das
sich dann entwickelt, bleibt oft lange Zeit nebelhaft, verworren, karg mit spärlichen
Lichtblitzen, die etwas Helligkeit in das dunkle Geschehen bringen. Hier sind die Ge-
duld und das Ausharren des Therapeuten gefragt, das Aushaltenkönnen des eigenen
Nichtwissens, das Verweilenkönnen in den eigenen Wüsten, in denen weit und breit
keine Oase zu sehen ist. Natürlich ist das kein angenehmer Zustand und es gibt innere
Widerstände, sich in diese Räume hineinziehen zu lassen, was zu zusätzlichen Ver-
wicklungen führt. Es kann jedoch vermutet werden, daß das innere Wandern und
Herumirren in unwirklichem Gelände (mit dem der Therapeut sich auf die innere Land-
schaft des Klienten einläßt) ein wesentlicher Teil des therapeutischen Prozesses sind,
ohne den kein günstiger Ausgang zu erwarten ist. Es ist wie im Märchen, in dem der
Protagonist erst eine bestimmte Prüfung bestehen muß, bevor sich etwas Neues er-
eignen kann.
Und ein weiteres Phänomen ist von Bedeutung: „Während der ganzen Behandlung
eines Borderline-Klienten wird der Therapeut von dem unbewußten Auge des Klienten
beobachtet und beurteilt. Dieses Auge mißt sehr wachsam, wie sehr der Therapeut sich
im Kampf zwischen den niedrigeren Ansprüchen der menschlichen Natur und den höhe-
ren Ansprüchen der Seele engagiert“ (Schwartz-Salant, S. 34 f). Versucht der Therapeut
also die Mühen der dunklen Ebenen zu vermeiden, etwa indem er einfache Lösungen
oder eine halbwegs passende Deutung anbietet, so schürt das eher das Mißtrauen und
trägt eher zur Verzweiflung des Klienten bei als sie zu mindern. Es geht hier also ganz
sicher nicht darum, eine vorgefertigte Lösung als allwissender Therapeut zu haben, sondern den
Klienten wissen zu lassen, daß man mit ihm gemeinsam um die Bewälti-
gung der Probleme ringe. Das Arbeitsbündnis entwickelt sich nur dann, wenn der Thera-
peut die Gemeinsamkeit der Suche anerkennt. Im grunde handelt es sich darum, gleich-
sam mitten in der Beziehungssuppe zu sitzen und zu warten und zu vertrauen, daß sich die Bilder und
Gedanken klären.
Identitätsdiffusion und Spaltung erschaffen einen Beziehungsraum, der sich (aus der
Sicht des Behandlers) als teigig, zäh, atemraubend, beengend, nebelhaft-verwirrend
beschreiben läßt. In diesem Raum verstricken sich die unverkörperten, abgespaltenen
Energien des Klienten mit denen des Therapeuten. Dies führt zu Verlust von Distanz
mit erheblichen Trübungen der Sinne: es ist, als würde man mit dem Fernglas eine
Qualle betrachten, die auf der Linse des Glases festgeklebt ist; oder wie das Gefühl, in
einer chaotisch-zähen, trüben, schleimigen Ursuppe zu sitzen, in der man zur Reglo-
sigkeit verdammt und das Denken gleichsam eingeklemmt ist. In diesem Raum kommt
es zu Wahrnehmungsausfällen und Denkblockaden, zu dem was ein Psychiater disso-
ziative Reaktionen nennen würde; auch das „imaginale Sehen“ geht verloren.
Die Energien und Gefühle, die der Klient nicht besitzt sondern ausgelagert hat, tendie-
ren dazu, den Therapeuten zu besetzen, d.h. daß der Mechanismus der projektiven
Identifikation nicht allein auf der Ebene der psychologischen Manipulation wirksam ist,
sondern vor allem ein energetisches Phänomen ist, das notwendig zur Begegnungs-
dynamik mit einem Borderline-Menschen dazugehört. Die Begegnung impliziert ein
Wiedereintauchen in den Beziehungsstrom der symbiotischen Zwei-Einheit Mutter-
Kind. Die energetische Landschaft dieser Beziehung ist der Boden, auf dem sich der
erwachsene Klient und der Therapeut begegnen.
Ich möchte meine Ausführungen über die Beziehungsdynamik um die Beschreibung
einiger Situationen ergänzen, die mir in der praktischen täglichen Arbeit als typisch er-
scheinen und deren Bearbeitung ich für therapeutisch fruchtbar halte.
4.4 Typische Beziehungssituationen als Kernsituationen in der Therapie
4.4.1 Das Fehlen von Kontinuität und Kohärenz und das „Lesen“ des Therapeuten
Eine gravierende Schwierigkeit in der Arbeit mit Borderline-Klienten besteht darin, so
etwas wie einen roten Faden im Therapieprozeß oder auch nur einer einzigen Stunde
zu erkennen bzw. einen gemeinsamen tragfähigen Boden zu schaffen, auf dem sich
kontinuierlich aufbauen ließe. Es ist, als schaufele man immer wieder den Zugang zum
gleichen Labyrinth frei, um in der nächsten Sitzung festzustellen, daß der Eingang wieder
zugeschüttet ist. Zeichen dieser mangelnden Kontinuität ist die typische An-
fangssituation einer Stunde. Die letzte Stunde scheint vergessen, der Klient sitzt ab-
wartend da und während ich ihn frage, wie es ihm geht, beschleicht mich das unbehag-
liche Gefühl, daß dieser Klient dabei ist, gleichsam mit seiner Aufmerksamkeit in mich
einzudringen und mein Inneres nach außen zu kehren. Es fühlt sich an wie ein sehr
kritisches „Lesen“ meiner Gefühlszustände, das mit einem Urteil über mich endet.
Dieses Urteil ist spürbar; im ungünstigen Falle habe ich es so erlebt, daß der Klient
mich abschreibt, seine Hoffnung in mich begräbt und sich dann desillusioniert/beun-
ruhigt zurückzieht. Dieser Prozeß läuft schnell ab und begleitet die Worte, die wir wech-
seln.
Nach einer vagen Auskunft über die Befindlichkeit meines Klienten scheint das Ge-
spräch zu versiegen. Es ist als ob sich eine Starre über die Interaktion legt, und der
Klient jede Eigeninitiative verloren zu haben scheint. Eine gespannte Erwartung be-
ginnt im Raum zu lasten, die mich zu bestürmen scheint, etwas zu tun, doch ist der
Druck derart, daß oft kein geeigneter wirkender Einfall sich bei mir einstellen will. Es
mag sein, daß ich auch in dieser Situation den unausgesprochenen Forderungsschwall
erlebe, dem mein Klient als Kind ausgesetzt war. Es scheint mir begründet, anzuneh-
men, daß das Kind sich so sehr bemüht hat, zu verstehen, was für stumme Forderun-
gen an es gerichtet waren, daß es zu einem Meister des energetischen „Durchscan-
nens“ seines Gegenübers geworden ist. Damit verbunden ist eine antrainierte Lenkung
der Aufmerksamkeit ins Gegenüber, die sie oft so hellsichtig gegenüber den feinsten
Regungen anderer Menschen machen, aber andererseits bewirkt, daß weite Land-
striche ihrer eigenen Innenwelt blinde Flecken bleiben. Diese Aufmerksamkeitsrichtung
ist im therapeutischen Prozeß umzukehren, so daß die körperliche Innenwelt des Kli-
enten mit eigener psychischer Energie besetzt wird.
4.4.2 Das Fehlen eines wohlwollend realistischen Selbstbeobachters
Ein weiteres Problem der therapeutischen Arbeit ist das Fehlen einer selbstreflexiven
Instanz bei der Borderline-Persönlichkeit. Kernberg führt aus, „daß Menschen mit solch
einer pathologischen Ichstruktur praktisch kaum in der Lage sind, eine probeweise Dis-
soziation ihres Ichs in einen erlebenden und einen beobachtenden Anteil…. vorzuneh-
men (Kernberg, S. 1OO). Die mangelnde Entwicklung dieses innerlich distanzierten
Selbstbeobachters macht sich etwa dann bemerkbar, wenn der Klient einen Konflikt aus
seiner Partnerschaft bzw. seinem Beruf schildert. Der Konflikt hat oft dramatische Aus-
maße, die gravierende Konsequenzen für den Klienten haben können, etwa Trennung
oder Verlust des Arbeitsplatzes. In aller Regel berichtet der Klient davon in der Form,
daß die Schuld an diesem Konflikt ausschließlich bei der/den jeweils anderen liege.
Und der Klient spricht dabei oft mit so haßerfüllter Selbstgerechtigkeit, daß die prin-
zipielle Solidarität des Therapeuten auf eine harte Probe gestellt wird.
Was in mir abläuft, während ich meinem Klienten zuhöre und seinen Bericht zu verste-
hen suche, kann etwa folgendes Muster haben: Zunächst wächst in mir eine gewisse Bestürzung über
die Blindwütigkeit dieses Klienten. Es ist, als wehre sich einiges in
mir, die Sichtweise des Klienten als einzig mögliche zu akzeptieren, während gleich-
zeitig der Eindruck in mir immer stärker wird, alles andere als die rückhaltlose Unter-
stützung seiner Sicht würde als verletzender Angriff gewertet werden. Der Klient scheint mich innerlich
vor die Wahl zu stellen, entweder total und bedingungslos auf
seiner Seite zu stehen oder zum Feind erklärt zu werden. Ratlosigkeit stellt sich ein.
„Was tun? Eine differenzierende Haltung scheint nicht möglich…. Da läuft offensicht-
lich eine Spaltung…. Welche Möglichkeiten habe ich? Ich könnte mich einfach raushal-
ten, nichts sagen, ein paar Mal nicken, schließlich könnte er ja auch völlig im recht sein
und meine Privatmeinung hat in der Therapie eh nichts zu suchen. Und wenn ich ihn gut begleite,
dann wird er schon selber drauf kommen und seine eigenen Anteile an dem Konflikt sehen…. Ach
Mist, den Gefallen tut er mir nicht. Und so wie er mich an-
schaut, scheint er meinem Nicken nicht zu trauen. Hoffentlich sagt er mal was, bei dem
ich ein klares Gefühl habe und ihn ehrlichen Herzens unterstützen kann…. Jetzt muß
ich mal was sagen, klar machen, daß ich ihn gut verstehen kann. Aber tue ich das denn? Der schaut
eh schon so mißtrauisch, wenn ich das nicht wirklich meine, was ich
sagen will, das durchschaut er doch sofort. Und ich fühl mich hinterher schlecht, wenn
ich was sage, was ich eigentlich nicht glaube…. wie lange dauert die Stunde eigentlich
noch? Ich mag solche Stunden nicht, bei denen ich hinterher das Gefühl habe, sie über-
standen zu haben…. vielleicht hilft es, wenn ich ihm erzähle, was alles mit mir pas-
siert, während ich ihm zuhöre. Aber der hat wirklich Schwierigkeiten, er reitet sich wieder mitten in die
Katastrophe, damit müßte ich mich beschäftigen. Von meinen Re-
aktionen zu sprechen, das lenkt doch nur ab. Und ist das nicht eher mein Interesse,
weil ich es nicht mehr aushalten kann?…. Andererseits: meine vornehme Zurückhaltung
hier bringt ja auch nichts. Kann mir die Theorie da helfen? „Freimütiges Mitteilen von
Gegenübertragungsgefühlen“ (vgl. Klußmann, S. 97 f) „ist gut; ich riskier das jetzt mal:
während ich dir zugehört hab, hab ich das und das erlebt. Wie denkst du darüber?“
Bei diesen Klienten dominiert das Agieren, doch die Wirkung eigener Handlungen wird
kaum gesehen, geschweige denn in einer planvollen Weise reflektiert. Hier scheinen
sich Spaltungsvorgänge, dissoziative Prozesse, fehlende menschliche Kontakte und
die Nöte eines Ich, das sich immer am Rande der Fragmentierung bewegt, in eine un-
heilvolle Allianz begeben zu haben, die dem Klienten schadet. Die Borderline-Persön-
lichkeit kann sich selbst nur sehr verschwommen sehen und durch ihre Tendenz, an-
dere Menschen in ihre diffuse Identität hineinzuziehen, verlieren diese ihre Fähigkeit
zu adäquater Spiegelung.
Eine Hauptaufgabe des Therapeuten scheint mir, auf die Entwicklung eines realis-
tischen Selbstbeobachters hinzuarbeiten, der Zusammenhänge zwischen eigenen
Handlungen und Wirkungen erkennen lernt und der auch eine reflektierende Pause
zwischen Bedürfnis und der Handlung, die der Befriedigung dieses Bedürfnisses
dient, einlegen kann.
Um nicht mißverstanden zu werden: es gibt Instanzen, die das Verhalten einer Border-
line-Persönlichkeit wahrnehmen und kommentieren, doch sind auch diese durch Spal-
tungsvorgänge deformiert. Es handelt sich keineswegs um eine wünschenswerte, wohl-
wollend-realistische Selbsteinschätzung, sondern Selbstüberschätzungen wechseln
sich mit grausamen, vernichtenden Urteilen der inneren Stimme/n ab.
Es scheint mir wichtig, daß der Therapeut seine differenzierende Sichtweise entwickelt
und auch mitteilt, um so die allmähliche Stärkung der Ich-Funktionen Realitätsprüfung,
planvolles Handeln und Bedürfnisaufschub zu erreichen. Das schreibt sich so leicht,
und in diesen Worten läßt sich kaum ermessen, wieviel Mut das manchmal erffordert:
sich der befürchteten Aggressivität dieses Klienten zu stellen, der so hart zuschlagen
kann.
In technischer Hinsicht hat sich hier eine konfrontierende Frageform bewährt, etwa so:
„Warum lebst du deine Gefühle immer noch auf diese Weise aus, obwohl du doch schon oft erlebt
hast, daß dir das nur Ärger einbringt/daß du dir damit selbst schadest?“
(Vgl. Aalberse, S. 14) . Oder: „Ich frage mich, warum du immer wieder in Situationen
kommst, wo du das Opfer bist und die anderen die Bösewichte? Wie siehst du das denn?“
4.4.3 Das verborgene Dreieck in der therapeutischen Dyade
Ein anderes wichtiges Element in der Therapie von Borderline-Persönlichkeiten ist das
Phänomen, daß es zu spezifischen Dreiecksbildungen kommt. Obwohl das therapeu-
tische Setting die Begegnung zweier Personen enthält, wirkt, wenn starke Spaltungs-
prozesse vorliegen, eine verdeckte Dreiecksbeziehung. Die kann die Form annehmen,
daß in der therapeutischen Beziehung alles gut zu gehen und sich ein harmonisches
Arbeitsverhältnis entwickelt zu haben scheint, während sich gleichzeitig die Beziehun-
gen in der Lebenswelt des Klienten verschlechtern. Kurz zusammengefaßt scheint in
der Sicht des Klienten folgende Polarität zu entstehen: wir zusammen gut – die Welt
schlecht. Werden die aggressiven Seiten des Klienten aus dem Therapieraum ausge-
schlossen, suchen sie sich um so stärker draußen ein Ventil. Die erwähnte Struktur
kann jedoch sehr schnell in ihr Gegenteil umschlagen, etwa wenn der Klient die Be-
kanntschaft einer Person X macht, die er idealisieren kann. Das die therapeutische
Beziehung dominierende Muster kann sich dann etwa so verkehren: du schlecht – ich
und X zusammen gut.
Ich erwähne diesen Aspekt, weil manche Therapiemodelle die Entwicklung des ersten
Beziehungsmusters (wir gut – die Welt schlecht) stillschweigend oder explizit favori-
sieren, ohne die Spaltungsaspekte darin zu erkennen. Kirsch spricht hier von einer
„unheiligen Allianz“ (Kirsch, S. 206) zwischen Therapeut und Klient gegen „die“. Diese
„die“ ist die Gesellschaft im allgemeinen, die Eltern und alle anderen nicht liebenden
geliebten Objekte aus der Vergangenheit und der aktuellen Umgebung; sie sind die
Verbindungen, die Partner, die Autoritäten, die Kräfte und all die unsensiblen Menschen
um uns herum.“ (Kirsch, ebd.) Wesentlich an der „unheiligen Allianz“ sei, daß sie die
negative Übertragung vermeidet.
Als Fazit dieser kurzen Diskussion möchte ich festhalten, daß alle therapeutischen An-
sätze, die die Arbeit mit der negativen Übertragung vermeiden, die Spaltungen ihrer
Klienten zumindest unangetastet lassen, sie häufig jedoch noch verstärken. Border-
line-Persönlichkeiten, als deren Hauptabwehr bekanntlich die Spaltung gilt, brauchen
ein Gegenüber, das da bleibt, auch wenn sie es zum Ziel ihrer Aggressionen machen.
4.4.4 Feindseligkeit und Nähe: „Ich hasse dich, verlaß mich nicht.“
Borderline-Persönlichkeiten gelten als Klienten, die sehr aggressiv werden können und
ihre Ablehnung, ihren Haß, ihre Feindseligkeit auch in scharfer Form ausdrücken. Die besondere
Unerbittlichkeit dieser Attacken ist wiederum ein Ergebnis der Spaltung: die
Aggressivität wird nicht durch libidonöse Gefühle für ein auch-gutes Objekt gemildert,
sondern äußert sich in ungehemmter Destruktivität vor einem total-bösen Objekt. Für
den Therapeuten scheint mir dies das schwerste: in der Schußlinie dieser destruktiven
Energie zu geraten und für den Klienten emotional präsent zu bleiben, denn diese Aggression wird als
elementarer Angriff auf das Lebensrecht des Therapeuten, über-
haupt da zu sein, und als existentiell vernichtend empfunden. Es ist klar, daß dieses
aggressive Agieren auch die Unsicherheit des Klienten erhöht, da sein Gegenüber ja
in ebenso scharfer Form antworten könnte. Und es droht, daß das Gegenüber sich völlig zurückzieht,
so daß der Klient allein zurückbleibt, was natürlich frühe Verlassen-
heitsängste aktualisiert.
Dieses Gemisch aus eigenen Vernichtungs- und Verlassenheitsängsten leitet den stim-
mungsmäßigen Umschwung ein, so daß der Klient sich wieder anzunähern beginnt. Der
Satz: „Ich hasse dich, verlaß mich nicht!“ faßt diesen Prozeß prägnant zusammen.
Oft erfolgt unmittelbar nach den Haßausbrüchen ein Umschlag in eher regressives, an-
klammerndes Verhalten. Beispielsweise kann es passieren, daß der Klient wütend aus
dem Therapiezimmer stürmt, sich einige Tage später telefonisch meldet, als wäre nichts gewesen,
sich völlig hilflos gebärdet und den Therapeuten um Rat oder eine zu-
sätzliche Stunde bittet. Diese Annäherung des Klienten scheint therapeutische Chancen
zu enthalten, doch der spezifische Umgang einer Borderline-Persönlichkeit mit Nähe und Intimität
kann diese leicht zunichte machen.
Nährende Intimität ist ein heilendes Prinzip, doch Borderline-Persönlichkeiten fällt es
schwer, aus emotional nahen Situationen Nutzen zu ziehen. Sie können nicht unbe-
schadet in eine gute Symbiose sinken, weil sie keine Kraft daraus schöpfen sondern
sich eher mit den abgespaltenen negativen Energien des anderen belasten, die leicht
in sie eindringen können. Und natürlich bedroht emotionale Nähe ihre prekäre Ich-Iden-
tität, die sich in einem affektiv warmen Klima aufzulösen droht. Das macht Angst. Diese
Angst kann durch eine aggressive Wendung gegen das Gegenüber abgewehrt werden
und als Begleiterscheinung der Aggression stellt sich auch wieder ein Ich-Gefühl ein.
Aber damit wird auch wieder ein neuer Zyklus ingang gesetzt, da die Aggression wieder
die Angst vor Beziehungsverlust stimuliert etcetera. Dieses Hin-und Herschwingen
zwischen weinerlichem Anklammern und zornigem Wegstoßen ist treffend als (wie be-
reits im Abschnitt über die anale Phase erwähnt) „sadomasochistischer Clinch“ be-
zeichnet worden. Stauss spricht davon, daß der Therapeut einer „emotionalen Kneipp-
Kur“ ausgesetzt wird, einem raschen Wechsel von warm und kalt.
Der Therapeut muß sich jedoch nicht nur mit der offfenen Feindseligkeit seines Klienten
beschäftigen, sondern auch mit seiner eigenen, die durch dessen Verhalten unweiger-
lich stimuliert wird. Es ist, als lege der Klient alles darauf an, den Therapeuten in die
böse Mutter zu verwandeln, die das Damoklesschwert des Beziehungsabbruchs schwingt. Und er
kann dabei durchaus erfolgreich sein: „Jetzt schmeiß ich ihn raus.
Ich kann diese Erpressungen/diese Beschimpfungen/diese blinde Arroganz etc. nicht
mehr ertragen. Der will es ja nicht anders. Er bestätigt mir immer wieder, daß die ganze
Arbeit nichts bringt, dann wäre es doch das beste,er würde sich jemand anders suchen,
der besser für ihn ist.“ Es scheint mir wichtig, sich klarzumachen, daß diese Feindse-
ligkeit die des Therapeuten ist und doch ist sie gleichzeitig das Ergebnis einer projek-
tiven Identifikation des Klienten, in der der Therapeut dazu gebracht wird, sich mit den
Elternintrojekten des Klienten zu identifizieren, die diesen wegschicken/ausgrenzen/
seine bloße Existenz verdammen wollen. Gelingt es dem Therapeuten, sich diesen Zu-
sammenhang wieder ins Bewußtsein zu rufen, so kann er diesen zum Therapiethema
machen, statt seine Feindseligkeit auszuagieren.
4.4.5 Die spezifischen Formen des Weggehens
Der Erfahrung der Borderline-Persönlichkeit, daß ihr Dasein und ihr ureigenes Sosein
ungewollt und unerwünscht waren und Distanzierung auslösten, entsprechen diverse Formen des
Weggehens, die sie als Bewältigungsstrategien einsetzt. Die wichtigste
dieser Formen scheint mir die des Weggehens aus dem eigenen Körper, da sie die
Basis für alle andern Dissoziationsvorgänge abgibt. Aus der charakteranalytischen
Untersuchung schizoider Strukturen ist bekannt, daß starke Feindseligkeit einer Eltern-
figur den Säugling in solchen Schrecken und Todesangst versetzen kann, daß das Leben im eigenen
Körper unerträglich wird. Der Säugling behilft sich dadurch, daß er
sein Bewußtsein aus den Körperregionen, in denen dieser Schrecken wütet, abzieht,
die Verbindung dazu abbricht und diese Körperregionen gleichsam einfriert. Das Be-
wußtsein zieht sich aus den Gefühlsregionen des Körpers in den Kopf und die Aura
zurück. Der Preis dafür ist die typische als-ob-Ausstrahlung des späteren Erwach-
senen, dessen Lebensäußerungen etwas mechanisches, kühles, formelhaftes und
körperlos-intellektuelles anhaftet.
Anders jedoch als beim kühlen Schizoiden ist die innere Dynamik der Borderline-Per-
son oft nahe am überkochen, was zu der bekannten Tendenz zu agieren führt. Auch das
Agieren selbst ist ja ein Weggehen, ein Fliehen vor der Wahrnehmung der inneren, emotionalen
Realität. Das Agieren führt nun bei der Borderline-Persönlichkeit zu einer
Externalisierung ihrer inneren Landschaft; d.h. daß der Preis für das Nichtfühlen die
Erschaffung des inneren Dramas außen ist. Die Person modelt die Menschen ihrer
alltäglichen Lebenswelt so um, daß sie den Gestalten ihres inneren Szenarios zu
ähneln beginnen. Dieser Prozeß geschieht in der Phantasie der Borderline-Persönlich-
keit, doch er geschieht auch ansatzweise real, insofern als die betroffenen Menschen
tatsächlich zu bestimmten Handlungen gedrängt werden, die ihnen mehr oder minder
nicht entsprechen. Beispielsweise wird eine Frau, die als Tochter in eine sexuell aus-
beuterische Beziehung zu ihrem Vater gedrängt wurde, diese sexuell ausbeuterische
Beziehung mit all ihren dramatischen emotionalen Facetten in ihrem Erwachsenen-
leben erneut herstellen und oft so, wie dies ihrem Erleben in der Ursprungssituation
entsprach. Es handelt sich dabei natürlich um einen Wiederholungszwang, doch nimmt
dieser für Borderline-Klienten eben aufgrund ihrer oft dramatischen Kindheitserlebnis-
se sehr bedrohliche und real selbstdestruktive Ausmaße an. Hinzu kommt, daß es da-
bei zu Verwischungen von Raum und Zeit kommt, so daß der Therapeut beispielsweise
das überwältigende Gefühl haben kann, er sei jetzt tatsächlich mit dem Kind zusam-
men und sei Teil des Kindheitsdramas, während der erwachsene Klient von einer Be-
gebenheit aus seinem jetzigen Leben erzählt.
Das Weggehen aus dem eigenen Körper ist dafür verantwortlich, daß es diesen Klien-
ten so schwer fällt, zu sagen, wie sie sich fühlen, was sie wollen oder was ihre wirk-
lichen Wünsche sind. Dazu gehört das Weggehen aus dem Hier und Jetzt, so daß sich
im Behandler schnell ein Gefühl einstellen kann, es seien verschiedene Zeitebenen
gleichzeitig präsent.
Ein weiterer Aspekt dieses Weggehens scheint mir die Tendenz zu sein (vor allem bei
Klienten, die therapeutisch oder esoterisch vorgebildet sind), aus dem Alltag in den
Mythos zu entfliehen, also beispielsweise Reinkarnationstheorien auf die Entstehung
von Alltagsproblemen anzuwenden oder Persönlichkeitsanteile mit großen Gestalten
aus religiösen Mythologien (etwa: Teufel) zu bezeichnen, was ihnen oft einen höchst
bedrohlichen Charakter verleiht.
Schließlich sei noch eine besondere Form erwähnt, mit der eine Borderline-Persönlich-
keit den nahen Kontakt vermeidet, der durch das empathische Verstehen des Thera-
peuten entstehen könnte. Seine Empathie wird oft inhaltlich destruktiv, im Ton aggres-
siv-vorwurfsvoll abgeschmettert. Äußert der Therapeut beispielsweise Verständnis da-
für, daß der Klient in einer bestimmten Situation wütend geworden ist („Das kann ich gut verstehen,
daß dich das sauer gemacht hat….“), so könnte eine typische Antwort
lauten: „Ach, du denkst ja auch nur, daß ich alles kaputt schlagen will und am besten
verboten gehöre….“ Entscheidend ist, daß der Klient offenbar auch das kurze Gefühl
des Zusammenseins, das sich im Annehmen eines empathischen Angebots einstellt,
nicht ertragen kann und daher reagiert, als wäre er bedroht.
5. Die Möglichkeiten biodynamischer Arbeit mit einem Borderline-Klienten
5.1. Energie, Körper und die Bedeutung von Berührungen
Als Hauptabwehrmechanismus einer Borderline-Persönlichkeit gilt die Spaltung, (d.i. das aktive
Auseinanderhalten guter und böser Selbst- und Objektrepräsentanzen) und die projektive
Identifizierung als ihr wichtigster Hilfsmechanismus (neben Ideali- sierung, Verleugnung,
Omnipotenzphantasien und Entwertung). Mit projektiver Identi- fizierung ist eine Sonderform der
Projektion gemeint, in der die Person, auf die proji- ziert wird, dazu gebracht wird, sich genauso zu
fühlen bzw. zu verhalten, wie in der Projektion vermutet wird.
Eine Grundannahme aller Körpertherapie ist die, daß psychische Störungen (und ihre zugehörigen
Abwehrformen) ein körperliches Substrat haben, sie also in irgendeiner Form verkörpert sind. Die
Abwehrform der Spaltung und ihre Hilfsmechanismen schei- nen mir in engem Zusammenhang zu
stehen mit den zahlreichen Phänomenen körper- licher Abspaltung, denen man bei Borderline-
Prozessen begegnet. Mit körperlicher Ab- spaltung meine ich, daß psychische
Prozesse/Erinnerungsspuren/ sensorische Eindrücke nicht als eigene körperlich (proprio- und
enterozeptiv) wahrnehmbare Empfin- dungen und Emotionen erfahren werden, weil die persönliche
Inbesitznahme des zuge- hörigen psychischen und/oder emotionalen Prozesses für die betroffene
Person be- drohlich ist. In meiner Sicht tendieren diese unverkörperten, abgespaltenen Energien
dazu, als Erinnerungsspuren in der Aura einer Person blockiert zu sein und sich eines anderen
Körpers zu bemächtigen, in dem dann die Umwandlung in jene Emotionen stattfindet, die für den
ursprünglichen Träger zu bedrohlich waren. Spaltet also bei- spielsweise ein Klient seine
Vernichtungsangst ab, so wird der Therapeut eben diese Angst in seinem eigenen Körper fühlen.
Diese Abspaltungen schwächen die integrative Funktion des betroffenen Ich und erhö- hen damit die
Gefahr innerer Fragmentierung, die mit Panikgefühlen einhergeht und von der betroffenen Person als
sehr bedrohlich erlebt wird.
Eine wesentliche Annahme der biodynamischen Psychologie ist, daß das freie energe- tische Strömen
reinigend und eutonisch ist, d.h. auf allen körperlichen, emotionalen und kognitiven Ebenen zu einem
gesunden und „vergnüglichen“ inneren Gleichgewicht führt. Damit einher geht ein Gefühl des
unabhängigen Wohlbefindens eines mit sich selbst identischen Menschen, der sich im eigenen Körper
und in der Welt zu Hause und geborgen fühlt und von dieser Basis aus sich vertrauensvoll auf den
Kontakt mit anderen Menschen einlassen kann, der den Charakter einer Ich-Du Begegnung an-
nimmt. So wie sich ein Fluß sein eigenes begrenzendes Ufer erschafft, so erzeugt auch das freie
Strömen der Lebensenergie ein Gefühl von innerer Einheitlichkeit und natür-licher, notfalls fester,
äußerer Konturen, die jeder Person ihre unverwechselbare Identi- tät verleihen.
Abspaltungen hingegen zerstören die Einheit- und Ganzheitlichkeit des körperlichen Funktionsflusses
und des eigenen Identitätsgefühls. Borderline-Menschen, die zu vielen Abspaltungen Zuflucht
genommen haben, leben in Körpern, in denen es viele „untote“, „wie abgestorbene“ oder
„eingefrorene“ Segmente gibt, mit denen Kontakt zu machen in Leere, Depression oder Panik führen
kann. Der Körper wird hier zu einem unwirklichen und kalten Ort, an dem zu verweilen schmerzlich ist.
Wer geht schon gern in eine „Wüste, in deren Sand Glasscherben verborgen sind“, wie ein ehemaliger
Kli- ent von mir sein Körpergefühl beschrieb. In einem solchen Körperbild werden nach meinem
Eindruck all die Schmerzen und Nöte gescheiterter symbiotischer Beziehung deutlich.
Der Körper kann auch ein Ort werden, gegen den sich der Haß einer Borderline-Persön- lichkeit
richtet, den sie selbstdestruktiv zu peinigen sucht. Neben dem Wunsch, in tiefen Kontakt mit sich
selbst zu kommen (wenn auch über Schmerz), scheint mir der Grund hierfür in der Übernahme einer
verborgenen Feindseligkeit einer Elternfigur ge- genüber der lebendigen Bewegung des Kleinkinds zu
liegen. Dies spiegelt sich dann in der Haltung der erwachsenen Borderline-Persönlichkeit zu ihrem
eigenen inneren Kind. Fordert man sie auf, damit Kontakt zu machen, so trifft man zunächst auf
enorme Widerstände und darunter auf einen überwältigenden Haß, mit dem das eigene innere Kind
verfolgt wird als der Teil, der immer Schwierigkeiten mache, für Angst und Un- sicherheit
verantwortlich und maßlos in seinen Forderungen sei. Der Klient wirkt dabei häufig sehr gequält, ganz
so, als wüßte er sich in seiner Not nicht anders zu helfen, als zu diesem inneren Kind grausam zu
sein. Es ist auch Aufgabe der Therapie, an der Ver- änderung des Verhältnisses Erwachsener –
inneres Kind zu arbeiten, denn das innere Kind ist ja nichts anderes als die symbolische
Rekonstruktion der Form, in der eine Person das authentische Wirken der Lebensenergie in sich
betrachtet.
Der Körper eines Borderline-Klienten ist besetzt von den Stimmungen und Nöten der Elternfiguren und
ihren Bewältigungs- und Kompensationsstrategien auf diese Stim- mungen. Neben der Angst vor dem
Wiederverschlungenwerden in einen symbiotischen Sumpf finden sich häufig auch
Besessenheitsängste. „Das Kind introjiziert sie (die Mutter) hauptsächlich in der Anstrengung, sie zu
retten, indem es ihre Schwierigkeiten, ihr Kreuz auf sich nimmt….. “ schreibt Searles, und: „Es
introjiziert sie nicht primär aus Angst oder Haß, sondern aus echter Liebe und Besorgnis für die
Mutter….. “ (Searles, S. 576, zitiert bei Rohde-Dachser, S. 165). Doch der spätere Erwachsene droht
häufig unter diesem Kreuz zusammenzubrechen, das ursprünglich gar nicht sein eigenes ist, sich nun
jedoch bis in seine organischen Tiefen in ihn eingegraben hat. Und als Ant- wort auf seine tiefen
Ängste und um den mannigfachen inneren Dämonen Herr zu wer- den, die in seinen Körper
eingesperrt sind, erlegt er sich viele Zwänge auf. In gewisser Weise lebt ein Borderline-Klient einen
existentiellen Quasi-Modus, und er erinnert auch an Quasimodo, der sich aufgrund seiner körperlichen
Mißgestalt vor den Menschen verborgen hält, wenngleich diese Mißgestalt hier nicht von außen
wahrnehmbar ist, sondern in seinen dunklen Phantasien und Träumen Form annimmt.
In muskulärer Hinsicht überwiegt Dystonie, oft in der Form, daß es oberflächlich ausge- dehnte
hypotone Muskelfelder gibt, während die Muskeln nahe an Gelenken und Wir-belsäule und den
Kernregionen des Torso eher hyperton sind. In der Selbstwahrneh- mung erscheint der Körper einer
Borderline-Persönlichkeit (wenn er überhaupt ihrer Selbstbeobachtung zugänglich ist) als konturlos,
unklar, mit verwischten Grenzen (ein Effekt der Hypotonie). Es können Hypersensibilitäten in einigen
Körperregionen auftre-ten, während andere Körperbereiche der Selbstwahrnehmung verschlossen
sind. Die Körperperipherie wird nur sehr undeutlich wahrgenommen. Wesentlich erscheint der
Eindruck der inneren Verbundenheit vieler Körperbereiche: der Körper ist nicht als ein- heitliches
Ganzes spürbar; Gefühle des Zerfallens in einzelne Teile mit leeren Zwischenräumen können
auftreten. Insgesamt fällt jede Form der Introspektion, insbe- sondere das Hineinspüren in den
eigenen Körper sehr schwer. Ihre Sensibilität für die inneren Regungen anderer Menschen steht in
umgekehrt proportionalem Verhältnis zu ihrer Fähigkeit, sich eigener emotionaler Strebungen gewahr
und bewußt zu werden.
Fordert man eine Borderline-Persönlichkeit auf, innere Organempfindungen in Bilder zu übersetzen,
so haben diese oft geometrisch-abstrakten Charakter (ein Schmerz wird als graues Rechteck gesehen
oder als leerer Kreis etc.), worin die große Distanz zwischen organischem Geschehen und dem
Bewußtsein einer Borderline-Persönlichkeit deutlich wird. Deutlichstes Zeichen dieser Distanz sind die
erheblichen Blockaden, die zwischen Kopf und Körper einer Borderline-Persönlichkeit bestehen. Es ist
ähnlich wie beim schizoiden Charakter, bei dem das Leben vor allem im Kopf gelebt wird und der
Körper wie ein mechanisches Anhängsel betrachtet wird. Allerdings ist die vertikale Dynamik einer
Borderline-Persönlichkeit wesentlich virulenter und aktiver , so daß star- ke updrift die betroffene
Person mit der permanenten Gefahr der Desintegration bedro-hen kann, gegen die andauernd
mühselige Ich-Erhaltungsmaßnahmen aktiv ergriffen und aufrechterhalten werden müssen. Körperlich
äußert sich das dann in Form starken Kopfdrucks (als würden Schraubzwingen angezogen, die den
Kopf und oft auch das Ge- hirn selbst zusammenpressen), Nackenproblemen, schweren Blockaden im
Hals, schließlich in erheblichen Beeinträchtigungen der Kopfsinne (Augen, Ohren, Nase etc.), die
dadurch auch dauernde somatische Schädigungen davontragen können (Augen- krankheiten,
Hörsturz, Nebenhöhlenprobleme, um nur einige wenige zu nennen). Die starken Blockaden im
Augensegment stehen im direkten Zusammenhang mit der für Borderline-Persönlichkeiten typischen
Verwirrung, ihrer Vergeßlichkeit, ihrer gering ent- wickelten Fähigkeit der Selbstreflektion,
mangelhafter Realitätswahrnehmung und para- noider und sonstiger projektiver Verzerrungen in ihrer
Sicht der Dinge.
Ansonsten imponieren in körperlicher Hinsicht eine eher beleibte Figur, die ein großes Nichts zu
umhüllen scheint, starke Zerwerchfellspannungen, häufig seitliche Verkrüm- mungen der Wirbelsäule
(die damit zu tun zu haben scheinen, daß die Person sich gleichsam in sich hineingekrümmt und
eingedreht hat, um sich zu schützen), Dispro- portionalitäten und schwache „Bodenhaftung“ und
Erdung der Beine.
Innere Unverbundenheit, verwischte Körpergrenzen, eklatante Mängel an unabhängi- gem
Wohlgefühl, Abspaltungen und Denk- und Wahrnehmungsblockaden müssen in Beziehungen zu
Vermischungen und Verstrickungen führen, den Laingschen „Knoten“, in denen es oft zu
beiderseitigem Verlust eines klaren Identitätsgefühls kommt. Statt einer Begegnung von Ich und Du
findet eine Auflösung in ein trübes Quasi-Wir statt, in dem die Beteiligten in einen kraftraubenden
energetischen Clinch verstrickt werden.
In meiner Sicht tragen also körperliche Blockaden und Abspaltungen in erheblichem Maße zu den oft
chaotischen und instabilen Beziehungen von Borderline-Menschen bei. Allein dies scheint mir ein
hinreichender Grund, körpertherapeutisch mit ihnen zu arbeiten. Allerdings ist dabei natürlich zu
berücksichtigen, daß Körperarbeit für diese Menschen sehr bedrohlich ist, weil es aus ihren
komplizierten Familienbindungen eben viele ausgelagerte, alte Gefühle gibt, die angstbesetzt sind.
Und da die tiefste Angst hier die von einer nahen Beziehung ist und Körperarbeit nahen Kontakt
geradezu impli- ziert, ist selbstverständlich, daß die Arbeit mit besonderer Behutsamkeit erfolgen sollte
und erst dann, wenn sich so etwas wie ein Arbeitsbündnis zwischen Therapeut und Kli- ent schon
entwickelt hat.
Eine weitere Grundannahme biodynamischer Psychotherapie ist die Existenz einer
„Primärpersönlichkeit“, die in „Verbindung mit dem instinktiven Selbst, den primitiven und
animalischen Bedürfnissen (ist), jedoch ist das vereint mit dem Transzendenten…. (G. Boyesen,
1982). Der Begriff steht für die wahre Natur eines Menschen, der in Kon- takt mit seiner
Lebensenergie ist und dessen Leben (Körper, Denken, Handeln) beseelt und durchdrungen ist von
Freude, grundlegender Sicherheit, einer natürlichen Liebe alles Menschlichen, Ehrlichkeit, einem
Gefühl des Einsseins etc. Diese Grundannahme steht in engem Zusammenhang mit dem tiefen
Vertrauen darin, daß das wahre Selbst, derr ureigene Kern eines Menschen im wesentlichen „gut“ und
richtig ist (vgl. South- well 1986). Ein therapeutisches Prinzip besteht daher darin, den Kontakt mit
dieser Primärpersönlichkeit oder dem wahren Selbst wiederherzustellen, so daß sie sich aus-
zudrücken und auszuweiten vermag.
Borderline-Menschen stellen eine harte Bewährungsprobe für dieses Modell dar, da ihr Lebensgefühl
dem der Primärpersönlichkeit oft direkt entgegengesetzt ist. Es ist, als ob ihr wahres Selbst in ein
schwer durchdringliches Gewirr aus Panik, Destruktivität, Schmerz, Schuldgefühlen etc.
eingeschlossen ist, das kein echter Impuls unbeschadet zu durchdringen vermag. Bei Schwartz-Salant
findet sich ein treffender Vergleich für die Primärpersönlichkeit einer Borderline-Persönlichkeit: „Das
Selbst hat in diesem Zu- stand große Ähnlichkeit mit dem mitleiderregenden Osiris aus dem
ägyptischen My- thos, der masochistisch, empfindungslos und unbeweglich in den Spiralen der
Schlan-ge des Chaos aus der Unterwelt liegt, die ihn angreift, wenn er versucht, sich zu erhe- ben….. “
(Schwartz-Salant, S. 87 f). In dieser Sicht ist das wahre Selbst einer Border- line-Persönlichkeit
eingezwängt in einen psychotischen Prozeß, der seine Befreiung zu einer solch riskanten
Gratwanderung macht. Alle therapeutisch naive Gutgläubigkeit in das Selbstheilungspotential und
jedes nur oberflächliche Vertrauen in die magischen Effekte der befreiten Lebensenergie wird von
dieser „Schlange des Chaos aus der Unterwelt“ nutzlos abprallen und hinweggefegt werden. Jeder
Borderline-Klient ist auch eine Konfrontation damit, wie tief das eigene Vertrauen in die Kraft der
Lebensenergie verwurzelt ist. Ist es nur oberflächliches Lippenbekenntnis, so zerfällt es bald. Ist es
hingegen wirkliche, gleichsam verkörperte Zuversicht, gewachsen aus eigener Erfah- rung, so steigen
die therapeutischen Chancen. Und hier erweist sich ein weiteres bio-dynamisches Prinzip als enorm
wertvoll, das ich als Vertrauen in die positive Teleo- logie der Lebensenergie und die spirituelle
Weisheit des Körpers bezeichnen möchte. Damit ist gemeint, daß die Vibrationen und das Strömen
der Lebensenergie gleichsam die körperlichen Gradmesser sind, die uns den Weg zu spiritueller
Erfüllung weisen. Gerda Boyesen hat immer wieder darauf hingewiesen, daß auch in den organischen
Tiefen vegetativer Prozesse eine Weisheit am Werke ist, die uns sanft und machtvoll dazu drängt,
wirkliches Bewußtsein zu erlangen. Bewußtsein ist Körperbewußtsein. Gerdas Antwort auf eine
scheinbar unlösbare Schwierigkeit eines Klienten ist ihr ver- trauensvolles: „it will come“ oder „it will
reveal itself“, das sie durch Anekdoten aus ihrem Leben zu bereichern weiß. Geduld, Vertrauen,
Demut, Glauben und Erfahrung scheinen sich darin glücklich zu verbinden. Als Therapeut immer
wieder zu dieser Hal- tung zurückzufinden, erscheint mir persönlich ein Großteil der therapeutischen
Arbeit mit einem Borderline-Klienten.
5.2 Therapeutische Haltungen und die Bedeutung der Präsenz
Es ist sicher wichtig, therapeutische Techniken zu kennen, doch sind sie, gerade in der Therapie von
Borderline-Persönlichkeiten, letztlich nur Beiwerk, da sich tatsächlich das wesentliche in der
Beziehung zwischen Klient und Therapeut ereignet. Von großer Be- deutung erscheinen mir hier die
Grundhaltungen, mit denen der Therapeut zu Werke geht. In biodynamischer Therapie ist die
Grundhaltung eher akzeptierend, einladend, ermutigend als fordernd oder eindringend. Viel Wert wird
auf einfach da sein und Ge- schehen-lassen gelegt. Die ruhige, heitere und aufmerksame Präsenz
des Therapeuten wird gleichsam als der athmosphärische Nährboden betrachtet, in dem der Klient auf
allen seinen Seinsebenen zu sich selbst finden kann. Da die Bedeutung dieser Prä- senz gar nicht
überschätzt werden kann und gerade in der Borderline-Therapie eine überragende Rolle spielt,
möchte ich hier etwas deutlicher beschreiben, was ich mir darunter vorstelle. Zum einfach da sein
gehört, daß der Therapeut seine eigene Identi- tät körperlich besitzt, also gleichsam gut in seinem
unabhängigen Wohlgefühl geerdet ist. Wenn der Therapeut bei sich ist, mit sich im reinen und klar ist,
nichts vom Klienten braucht, dann können sich erstaunliche Phänomene entfalten, obwohl der
Therapeut gar nichts zu tun scheint. Das hat wenig mit Magie zu tun, sondern ist ein Effekt ener-
getischer Prozesse. Präsenz im beschriebenen Sinne bewirkt ein allmähliches Zusam- menschwingen
der Energiesysteme von Therapeut und Klient, das dem Energiesystem des Klienten erlaubt, bei sich
zu sein, den eigenen Körper zu durchdringen und die zer- splitterten und oft gegenläufigen inneren
Rinnsale und mäandernden Bäche der Le- bensenergie zu einem Strom zu ordnen (so wie eine
magnetische Kraft Eisenspäne in eine bestimmte Form zu ordnen vermag), der die einheitliche
Empfindung eines klaren Gefühls, eines deutlichen und starken Selbstkontakts mit sich trägt und in
eine er- frischende Zuversicht münden kann. Meine Erfahrung ist, daß die günstigsten Voraus-
setzungen für einen therapeutischen Fortschritt dann gegeben sind, wenn der Thera- peut sich in
diesem Zustand (charakterisiert durch Gefühle der Gelassenheit, Unabhän- gigkeit, hoher Spannkraft,
stiller und starker Zuversicht, einem festen Glauben an den guten Sinn der Lebensäußerungen des
Klienten (der sich fast wie en passant einstellt etc.) befindet, weil dieser Zustand ein energetisches
Feld erzeugt, an dem, vielleicht auch: in dem sich die verwirrten Impulsstränge ordnen und die
ausgelagerten, abge- spaltenen Emotionen in das Zuhause des eigenen Körpers zurückkehren
können und sich der Mut einstellt, diese Emotionen auch als eigene zu fühlen.
Es scheint mir auch, daß die Technik, die der Therapeut dann verwendet, von eher nachgeordneter
Bedeutung ist, weil diese energetische Begegnung direkten Kontakt mit den tiefen Lebensmatrizen
eines Menschen, den ursprünglichen Bauplänen und dem Baustoff seiner Motivationssysteme
herzustellen und sie in einer für ihn frucht- baren und nützlichen Weise neu zu formen vermag. Diese
Neuformung scheint einer Weisheit zu folgen, gegenüber der alle therapeutischen Techniken eher
kümmerlich er- scheinen und Gerdas Mahnung greift, daß es oft das wichtigste für den Therapeuten
sei, nicht zu stören.
In der Arbeit mit Borderline-Klienten sind es häufig die kleinen, spontanen, echten Gesten der
Anteilnahme, des wirklichen Mitgefühls, der Sorge (ein übers Haar strei- chen, ein wirklich
bekümmertes Seufzen u.a.), die durchdringen und da ankommen, wo Veränderung beginnt. Und das
beschriebene energetische Feld ist der ideale Nährbo- den, in dem diese Gesten wachsen können
und die rechten, passenden Worte sich ein- finden. Erinnert man sich an die Charakterisierung der
Mütter von Borderline-Klienten als Frauen, „die ihre Ängste und die emotionale Verarmung ihrer
Persönlichkeit hinter einer pseudo-gebenden Haltung erfolgreich verbergen konnten“ (Chessik, S. 26),
zit. bei Rohde-Dachser, S. 155), so ist das Mißtrauen dieser Klienten gegenüber allem, was nach
technischer Haltung und unbeseeltem Handeln des Therapeuten riecht, unmittel- bar verständlich.
In diesem Feld ist es möglich, mit der Verzweiflung des Klienten da zu bleiben, ohne sie aus Gründen
der eigenen Entlastung allzuschnell wegmachen und „heilen“ zu wollen. Aus einer Verzweiflung, die
da sein darf und die der Therapeut da sein läßt, wird schließlich neue Zuversicht erwachsen.
Verzweiflung, die mit gutem Zureden weg- therapiert wird, wird nur noch schwärzer.
Präsenz im beschriebenen Sinne erschafft den Möglichkeitsraum, in dem eine gute Symbiose, im
Sinne eines einfachen Zusammenschwingens der Energien, das in sich nährend ist, gedeihen kann.
Hier nun liegt genau der Kern der Borderline-Problematik, dessen reale frühe Erfahrungen mit
Symbiose verheerend waren. In Symbiose zu sin- ken bedeutet für ihn, parasitär ausgebeutet oder
verlassen zu werden, schutzlos abge- spaltenen Erwachsenenemotionen ausgeliefert oder
unmenschlichen Forderungen aus- gesetzt zu sein, wiederverschlungen zu werden und sich
aufzulösen, mit unbegreif- licher und verdeckter Feindseligkeit konfrontiert zu werden, letztlich:
deutlich zu fühlen, daß er selbst nicht da sein, sondern nur insoweit existieren darf, als er sich um das
Zu- sammensein mit einer anderen Person bemüht, die selbst zur guten Symbiose unfähig ist. Die
Unmöglichkeit dieses Unterfangens erklärt meines Erachtens viel von der ver- zweifelten Tragik eines
Borderline-Klienten.
Soll wirkliche Heilung stattfinden, so sind Erfahrungen eines guten symbiotischen Kon- takts in der
Therapie eine unerläßliche Voraussetzung. „Wer nichts vom Sein erfahren hat, wie soll der wissen,
was das Sein ist“ (Saadi). Ein Borderline-Klient ist zu Beginn der Therapie völlig unfähig, „loszulassen“
oder sich vertrauensvoll auf seine inneren Impulse einzulassen (im Sinne des let it impinge from
within). Sollte dies doch der Fall sein, so scheint mir dies die Folge einer starken Verschmelzungs-
Idealisierung des Therapeuten zu sein. Doch auch dabei läßt sich der Klient nicht auf sich ein; denn
ei- gentlich fühlt er dabei nicht seinen eigenen Körper, sondern den des Therapeuten.
Fordert man den Klienten auf, zu sagen, wie er sich fühlt, so wirkt er oft hilflos, ange- spannt,
wachsam; die Augen sind und bleiben offen, eine seltsame Mischung aus müh- sam
aufrechterhaltener Kontrolle, Erschöpfung, Überdruck und Unfähigkeit, sich Er- leichterung zu
verschaffen, tritt auf. Oft stellt sich eine „atemlos-gepreßte“ Athmosphäre ein, in der die
Aufmerksamkeit ganz auf den Therapeuten gerichtet scheint, fast als müsse der Klient den
Therapeuten zwanghaft überwachen. Es erinnert sehr an das „Be- schatten“ der Mutter durch das
Kleinkind zu Beginn der Wiederannäherungsphase. Mahler et al. meinen damit eine typische
Verhaltensweise, nämlich die, daß „das Kind die Mutter unablässig beobachtet und jeder ihrer
Bewegungen folgt“ (Mahler et al., S. 102). Was für das Kind natürlich und gut ist, nimmt beim
erwachsenen Borderline-Kli- enten Züge einer panischen Fixierung auf die reale Person des
Therapeuten an, bei der genau überprüft wird, ob sie mit Qualitäten der guten Mutter präsent ist oder
eher die Mängel der realen Mutter aufweist. Letzteres ist die tiefe Erwartung der pb, die sich
verzweifelt bemüht, alle verborgenen Gefahren und Fallstricke des nahen Kontaktes mit dem
Therapeuten zu erkennen, um nicht wieder Schaden zu nehmen.
Dies hat Konsequenzen, denn es kann sich leicht in eine sich selbst erfüllende Prophe- zeihung
verwandeln; für den Therapeuten ist es nicht leicht, in einem Klima zwanghaf- ter Überwachung bei
sich zu bleiben, so daß ihm nun Unterlassungen und Unachtsam- keiten unterlaufen können, die ihm
in einer entspannteren Athmosphäre nicht passiert wären. Andererseits hat die Borderline-
Persönlichkeit natürlich gute Gründe für ihre ver- zweifelte Wachsamkeit; und tatsächlich kann sie im
nahen Kontakt mit dem Therapeu- ten Schaden nehmen, und zwar dann, wenn der Therapeut eigene
aggressive Emotio- nen abgespalten hat, unbewußt oder unehrlich mit seinen eigenen Emotionen ist.
Bor- derline-Klienten neigen dazu, diese abgespaltenen Energien aufzusaugen und gleich- sam
mitzutragen, was ihre innere Hölle mit weiteren Dämonen bevölkert.
5.3 Möglichkeiten und Grenzen biodynamischer Techniken bei einer Borderline-
Persönlichkeit
Insofern als es sich bei einer biodynamischen Massagebehandlung natürlich auch um eine nahe
Begegnung zweier Menschen handelt, ist sie für Borderline-Klienten in sich, unabhängig von jeder
Technik, höchst problematisch. Die Probleme bestehen, noch einmal, darin, daß über die direkten
Berührungen und den nahen Kontakt die Gespens- ter einer verunglückten Symbiose und
komplizierter Familienbindungen zum Leben er- wachen können, der Körper zunächst oft nur
schmerzliche und unangenehme Erfahrun- gen bereithält, die Erhaltungsmechanismen (die der
Abwehr des „Chaos der Unterwelt“ dienen) gelockert werden können und der Kleint sich die Dämonen
seines Therapeuten zusätzlich aufbürdet.
Dennoch erscheint mir die biodynamische Massage ein unverzichtbares Hilfsmittel in der Arbeit mit
Borderline-Persönlichkeiten, sofern sich der Therapeut der beschriebe- nen Problematik bewußt ist.
Und dies deshalb, weil sie in so idealer Weise dafür ge- schaffen ist, die Erfahrung des Angenommen-
und Willkommenseins körperlich zu ver- ankern. Es ist leichter, an den Worten eines Gegenübers zu
zweifeln, der seine prin- zipielle Solidarität oder gar Liebe ausdrückt, als sich gegen das angenehme
Erlebnis einer passenden, einfühlsamen oder gar liebevollen Berührung zu sperren. Massage kann
die Erfahrung von Fragmentierung / Zerstückelung / eines zerrissenen `Haut-Ich`, eine Erfahrung von
Kontur / Struktur / von kohärent-begrenzter Ganzheit entgegenset- zen, die nicht Gerede bleibt
sondern erfühlte eigene Wirklichkeit ist. Biodynamische Massage kann vieles tun, was dieser Klient so
dringend benötigt: ihm Erleichterung von den Bürden des inneren Überdrucks verschaffen, ihm ein
Gefühl für den eigenen Körper und seine Grenzen geben, die Angst beruhigen, die lustlose Mattigkeit
in guten Tonus verwandeln, da Ja zum eigenen Körper verstärken….. doch der eigentliche Wert
scheint mir darin zu liegen, daß die Person im nahen und zuverlässigen Kontakt im Laufe der Zeit
(und dies gelingt gewiß nicht schnell) jenes Urvertrauen in sich, den ei- genen Körper und die Welt
erst erwirbt, das die Frucht einer gelungenen Symbiose ist.
Bekanntlich beginnt die Psychoperistaltik, mit der emotionale Zyklen endgültig abgeschlossen und
verdaut werden, erst dann zu arbeiten, wenn eine Situation ruhiger Geborgenheit vorhan- den ist. Wie
die Situation definiert wird, hängt dabei ausschließlich vom inneren Erleben und der Wahrnehmung
einer Person ab. Während das Massagesetting für einen gewöhnlichen Be- obachter wie eine
friedliche Szenerie erscheinen mag (also ein Raum, der Psychoperistaltik ein- lädt), scheint er für
Borderline-Klienten eher mit Monstern angefüllt, die sich nahe an der Be- wußtseinsschwelle bewegen
und jeden Moment durch- und losbrechen können. Dement- sprechend wird das gesunde Arbeiten der
Psychoperistaltik beeinträchtigt. Ich habe zwei For- men beobachtet. Bei der ersten Variante bleibt der
Klient in seiner ängstlich-wachsamen Er- wartungsspannung und die Peristaltik bleibt stumm. Dies
kann für beide zu einer sehr frus- trierenden Erfahrung werden, wenn sich das über Monate nicht
verändert. Es ist natürlich nützlich, sich als Therapeut immer wieder ein Modell der besonderen
Problematik dieses Kli- enten bewußt zu machen, sich in Geduld zu üben und sich der klassischen
Worte aud dem
I Ging zu erinnern: Beharrlichkeit ist von Heil. Gut erscheint mir auch ein offenes Mitteilen der eigenen
Beobachtungen und Reaktionen auf das Kontrollverhalten des Klienten und Gespräche, die der
Beziehungsklärung dienen. Unabhängig von der Technik des Therapeuten kann es nach meiner
Erfahrung Jahre dauern, bis ein Borderline-Klient in sich die Erfahrung einer stabilen
psychoperistaltischen Verarbeitung mit all ihren beglückenden Begleiterscheinungen erleben kann.
Im zweiten Falle scheint die Peristaltik in übertriebener Weise zu funktionieren und klingt so,
als sei die Wasserspülung eines WC schadhaft und das Wasser rausche permanent durch. Dies
scheint mir ein Ergebnis der inneren Verbundenheit zu sein; es ist als arbeite die Peristaltik auf
Hochtouren, doch bringt dies keine angenehmen Körpersensationen mit sich, weil die Peristal- tik
durch einen eigentümlichen Mechanismus von den anderen vegetativen Prozessen abgekop- pelt
und getrennt zu funktionieren scheint. Als generelle Orientierung gilt natürlich auch hier, sowohl an
der Identifizierung mit dem eigenen Körper als auch an der Stimulierung ganz- und einheitlicher
Körpererfahrungen zu arbeiten.
Schließlich verbinde ich eine weitere Hoffnung mit der Massagearbeit. Da „das Ich zunächst ein
Körper-Ich“ (S. Freud) ist, kann die Stimulierung positiver Körpergefühle über Massagebehand-
lungen zu einer allmählichen Ersetzung negativer Selbstrepräsentanzen führen, in dem Sinne: mein
Körper fühlt sich gut an, das bin ich auch, also bin ich gut. Doch dies geht sicher nicht ganz von allein.
Die konzeptuelle Arbeit darf dabei nicht vernachlässigt werden, weil die Gefahr be- steht, daß das
Erleben in der Massage mißverstanden werden kann als Wiederholung von: Ich bin gut, wenn ich
passiv, klein und abhängig bin. Das bedeutet, daß es wichtig ist, ausdrück- lich zu vermitteln, daß
die guten Körpergefühle allein dem Klienten und zu seinem Potential des unabhängigen
Wohlbefindens gehören, das sein Geburtsrecht ist. Genauso wichtig ist, daß diese Gefühle vom
Therapeuten wahrgenommen und akzeptiert oder sogar mit Vergnügen und Freude begrüßt werden.
Der Klient mag auf diese Gefühle des Therapeuten abweisend reagie- ren, doch kann man sich sicher
darin sein, daß es gerade in diesem Klienten eine verzweifelte Sehnsucht nach dieser Art der
freudigen Anteilnahme gibt. Aussprechen eigener Gedanken und Gefühle scheint mir gut und auch
für fundierte Erklärungen seiner sonderbaren Zustände ist dieser Klient, im Gegensatz etwa zu
narzißtischen Personen, recht offen. Erklärungen ver- mitteln hier Orientierungen und sind
Haltepunkte, die den Schrecken vermindern können. Auch Metaphern (wie beispielsweise das Osiris-
Bild von Schwartz-Salant) sind hilfreich. Dazu gehört nach meinem Eindruck, daß der Therapeut sich
in das intellektuelle Verständnis dieser kompli- zierten Struktur vertieft und dieses Wissen präsent hat.
Auch die vegetotherapeutische Arbeit muß berücksichtigen, daß dieser Klient von einem hohen
Angstpegel gepeinigt wird, das ihn immer wieder mit Fragmentierung bedroht. Abzuraten ist daher von
starken aggressiven Ausdrucksübungen, da es in deren Folge häufig zu Panik, De- pression und
überwältigenden Schuldgefühlen kommen kann und der Klient desintegrieren kann. Es kann sein,
daß der Klient in einer plötzlichen Explosion seine Wut herausschreit, doch dann von starker Unruhe
erfaßt wird. Möglich und therapeutisch gesehen problematischer ist die Tatsache, daß sich diese
Vernichtungsangst und Verlassenheitsdepression häufig erst dann einstellt, wenn der Klient die
Sitzung verlassen hat und er dann allein damit ist.
Sinnvoller scheint es, den Klienten einige konzentrierte aggressive Bewegungen ausführen zu lassen,
mit der Weisung, zu unterbrechen, wenn Angst auftaucht. Beispielsweise könnte man den Klienten
auffordern, eine Faust zu machen und zwei oder drei Schläge auf die Matratze aus- zuführen. Wenn
auch das zu angstbesetzt ist, kann der Ausdruck in der Phantasie erprobt wer- den: „Stell dir vor, du
schließt deine Finger zu einer Faust….. laß die Vorstellung deutlicher wer- den….. wie fühlt sich das
an….. etc.“
Bei allen Vorschlägen, die der Therapeut einer Borderline-Persönlichkeit macht, sollte er sich auch
der Tatsache bewußt sein, daß dieser Klient scheinbar sehr willfährig sein kann; d.h. es kann sein,
daß er exakt das tut, wozu ihn der Therapeut in seiner Anweisung aufgefortert hat, doch kann das
eine roboterhafte Qualität annehmen. Es ist, als ob der Klient dann seinen Kör- per zwar bewegt,
aber gleichzeitig aus ihm weggegangen ist und nicht wirklich mit seinen Be- wegungen verbunden ist.
Das ist typisch für Mißbrauchsklienten, in denen eine unbewußte Wiederholung abzulaufen scheint,
etwa in der Art: „Gut, nimm meinen Körper, ich gehe einst- weilen woanders hin; du kannst meinen
Körper benutzen, aber mich kriegst du nicht…..“ Einer oberflächlichen compliance entspricht hier in
der Tiefe ein radikaler Rückzug aus dem Körper und damit der Begegnung.
Eine generelle Orientierung für die Körperarbeit mit einer Borderline-Persönlichkeit scheint mir darin
zu bestehen, alles zu unternehmen, was einer Identifizierung mit dem eigenen Körper und der
Herstellung innerer Verbindungen förderlich ist und alles zu lassen, was eine Fragmentie- rung
provozieren könnte. Innere Verbindungen werden in biodynamischer Sicht automatisch erschaffen,
wenn die Lebensenergie fließt. Dies kann neben Massage durch einfache Körper-
sensitivitätsübungen erreicht werden, wobei es natürlich Zeit erfordern kann, die passende Übung zu
finden. Förderlich scheinen mir Körperspürübungen – allein schon die Frage: „wie spürst du dich in
deinem Körper?“ ist eine solche Übung – und alle Interventionen, die die Auf- merksamkeit auf den
eigenen Körper und seine Innenräume legen. Eine andere Möglichkeit ist, den Klienten dazu
aufzufordern, sich seine Körpergrenzen (etwa durch Betasten mit den Hän- den) bewußt zu machen.
Dies kann dadurch verstärkt werden, daß man den Klienten auffor- dert, bei der Berührung eines
jeden Körperteils diesen laut zu benennen und mit dem Pronomen „mein…..“ zu verknüpfen. (Beispiel:
der Klient legt seine Hand auf seinen Bauch und spricht laut: „Mein Bauch“). Der Sinn dieser Übung
liegt natürlich in einer Wiederaneignung des eigenen Kör- pers.
Es ist von überragender Bedeutung, therapeutische Fragen und Interventionen möglichst prä- zise
zu formulieren bzw. sich klar darüber zu sein, was man genau in welcher Form gesagt hat, weil ein
Borderline-Klient die Frage buchstäblich und wörtlich nimmt. Beispielsweise ist es etwas völlig
anderes zu fragen: „Wie fühlst Du deine Brust?“ als genauer zu fragen: „Wie fühlst du dich in deinem
Brustraum….. dem Raum zwischen oberem Rücken und Brust…..“ Auch scheint es mir sinnvoll, statt
der globalen Frage: „Was passiert?“ häufiger präzise nachzufragen, etwa so: „Fühle, wo du jetzt
deine Aufmerksamkeit hast….. was geschieht da…..“ Gut sind Fragen, die zu bestimmen suchen, wie
der Klient seine körperlichen Erfahrungen in jedem Moment or- ganisiert und Fragen, die darauf
abzielen, herauszufinden, wie genau der Klient ein Gefühl/eine Körperempfindung eigentlich sinnlich
wahrnimmt, d.h. zum Beispiel herauszufinden, wie und wo der Klient die Spannung/die Angst
eigentlich wahrnimmt.
Ich möchte den Aspekt der Bedeutung dessen, was und wie der Therapeut etwas sagt, noch einmal
besonders hervorheben. Menschen in Borderline-Prozessen sind enorm suggestibel für die
buchstäbliche Bedeutung der Wörter, die zu ihnen gesprochen werden. Ich habe den Ein- druck, daß
Wörter in ihrem Innern häufig den Charakter hypnotischer Trancebefehle annehmen können, die
unbewußt weiterwirken und sehr verhaltensbestimmend sein können. Daher scheint es mir nötig,
immer wieder sehr wachsam für die eigene Wortwahl zu sein. Eine kleine Geschich- te mag diesen
Punkt illustrieren.
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Eine Geschichte: „Der Traum und sein Sinn“
Ein orientalischer König hatte einen beängstigenden Traum. Er träumte, daß ihm alle Zähne, ei- ner
nach dem anderen, ausfielen. Beunruhigt reif er seinen Traumdeuter herbei. Dieser hörte den Traum
sorgenvoll an und eröffnete dem König: „Ich muß dir eine traurige Mitteilung
machen. Du wirst genau wie die Zähne alle Angehörigen, einen nach dem anderen, verlieren.“ Die
Deutung erregte den Zorn des Königs. Er ließ den Traumdeuter in den Kerker werfen. Dann ließ er
einen anderen Traumdeuter kommen. Der hörte sich den Traum an und sagte: „Ich bin glücklich, dir
eine freudige Mitteilung machen zu können: Du wirst älter werden als alle deine Angehörigen, du wirst
sie alle überleben.“ Der König war erfreut und belohnte ihn reich. Die Höflinge wunderten sich sehr
darüber: „Du hast doch eigentlich nichts anderes gesagt als dein armer Vorgänger. Wieso traf ihn die
Strafe, während du belohnt wurdest?“ fragten sie. Der Traumdeuter antwortete: „Wir haben beide den
Traum gleich gedeutet. Aber es kommt nicht nur darauf an, was man sagt, sondern auch wie man es
sagt.“ (aus: Peseschkian, 1983, S. 9)
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Die Arbeit mit Bildern, die eine große Rolle in der Psychoorganischen Analyse von Paul Boyesen
spielt, erscheint mir ebenfalls von großer Bedeutung (etwa für die Stärkung der Verbindung or-
ganischer und kognitiver Prozesse), doch sieht sich diese Arbeit wiederum einer besonderen
Schwierigkeit gegenüber. Denn um etwas sehen zu können, muß ich mich ja in einer gewissen
Distanz zum Objekt meiner Wahrnehmung befinden, und zu solcher Distanz ist der Borderline-Klient
(aufgrund seiner symbiotisch-verklebten Erlebensweise) wenig in der Lage. So erscheint es mir eher
ein Therapieziel, den Klienten mehr und mehr in die Lage zu versetzen, innere Bilder konstruieren und
wahrnehmen zu können, als davon auszugehen, er bringe diese Fähigkeit mit. Der folgende
Zusammenhang könnte zutreffen: je deutlicher ein Borderline-Klient innere Bilder wichtiger
Elternfiguren in distanzierter Weise betrachten kann, desto höher ist sein Grad an Ich-Integration.
4.5 Anmerkungen zur Wichtigkeit des Beziehungsgeschehens in der Borderline-Therapie
Ich habe oben behauptet, daß die Borderline-Therapie entscheidend von der Bereitschaft des
Therapeuten abhängt, immer wieder an sich zu arbeiten, um den Zustand eigener Gesundheit,
Klarheit und Präsenz wiederherzustellen. Dies hängt mit der sattsam bekannten Tatsache zu-
sammen, daß der Borderline-Klient ein Mensch ist, der den Therapeuten immer wieder aus diesem
Zustand vertreiben kann, indem er scheinbar mühelos in den Binnenraum des Thera- peuten
einzudringen vermag und dort mehr oder minder gut gehütete unangenehme Wahrheiten, ungeliebte
Gefühle, bestürzende Aggressionen, schamhaft verborgene Geheimnisse aufwühlt, mit denen der
Therapeut in irgendeiner Form ins reine kommen muß, bevor sich sein inneres Gleichgewicht wieder
herstellen kann. Und aufgrund der körperlichen Abspaltung und Ausla- gerung vieler Gefühle kommt
es häufig zu dem Phänomen, daß es zunächst der Therapeut ist, der in Kontakt mit Gefühlen in sich
kommt, Gefühle, die der Klient zu bedrohlich fand und ab- spalten mußte, in die er jedoch irgendwann
selber hineingehen wird, um sie sich wieder anzu- eignen.
Diese Phänomene können Prozesse im Therapeuten auslösen, die viel Wachsamkeit erfordern.
Häufig genug leidet der Therapeut an vagen Irritationen, Bedrückungen oder gar giftig-aggres- siven
Stimmungen, die sein Privatleben belasten können und als Reste einer unveredeauten Stunde mit
einem Borderline-Klienten weiterwirken, bis sie als solche verstanden werden. Dann jedoch können
sie zu nützlichen Hinweisen werden, die die Perspektive des Therapeuten auf den Klienten und oft
auch die Selbsterkenntnis vertiefen. Das ist die Schwierigkeit, mit und der Segen dieser Klienten: daß
sie einen immer wieder auf die eigene Unwissenheit stoßen und den „Psychotherapeut(en)…..“ immer
wieder „daran erinnern…..“, daß er noch alles zu lernen hat“ (C.G. Jung, GW 16, §464, zit. bei:
Schwarz-Salant, S. 11).
Ich möchte meine Ausführungen mit einer kritischen Anmerkung zum Umgang mit dem Be-
ziehungsgeschehen in der Biodynamik beschließen. Zumindest in weiten Teilen dieser facetten-
reichen Therapietradition dominiert eine Haltung, mit Übertragung so umzugehen, daß man gleichsam
darum herum arbeitet, d.h. zwar die Existenz dieser Phänomene anerkennt, sie je- doch nicht weiter
thematisiert. Doch angesichts der Tatsache, daß Borderline-Klienten enorm starke
Gegenübertragungsgefühle hervorrufen, scheint mir diese Betrachtung zu einseitig und kurzsichtig.
Denn dieser Klient ist ja ohne Einbeziehung der Person des Therapeuten und ohne Betrachtung der
im gemeinsamen Beziehungsraum erschaffenen Felddynamik gar nicht versteh- bar.
Eine therapeutische Haltung, die dem Therapeuten nur die Qualitäten der guten Mutter zubilli- gen will
und seine Gegenübertragungen nicht wahrhaben will, ist in diesem Zusammenhang bestenfalls
kontra-produktiv und ungünstig. Sie kann dann wirklich schädlich werden, wenn der Therapeut sich
allzusehr mit den Qualitäten der guten Mutter identifiziert und darüber aus den Augen verliert, daß
die Beziehung zum Klienten auch durch ganz andere, reale und hand- feste Faktoren bestimmt wird,
etwa der Tatsache, daß der Klient den Therapeuten bezahlt. Bor- derline-Klienten funktionieren in
gewisser Weise auf dem Niveau der Bedürfnisbefriedigung, d.h. daß andere Menschen nur im Hinblick
darauf betrachtet werden, inwieweit sie zur Befriedigung eigener Bedürfnisse geeignet sind. Sie
fordern gleichsam die gute Mutter ein, doch kollidiert das häufig schnell mit den therapeutischen
Rahmenbedingungen. Versäumen sie etwa eine Stunde, so kann man auf Empörung und Ablehnung
stoßen, wenn man nachfragt, wer denn nun die versäumte Stunde bezahlen soll. „Patienten auf
dem Niveau der Bedürfnisbefriedigung können eine solche Frage nicht beantworten“ (wer versäumte
Stunden bezahlen soll), „weil in ihrem Un- bewußten die Therapie mit Bemutterung gleichgesetzt wird,
und für Bemutterung bezahlt man nicht“ (Blanck & Blanck 1988, S. 219). Die illusionäre
Selbstidentifikation mit den Qualitäten der guten Mutter kann die Realitätsverkennung und Spaltung
dieses Klienten eher noch verstärken.