Einführungstext 1

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Biodynamische Psychologie und Psychotherapie (I)

1. Biodynamische Psychotherapie ‑ Eine kurze Übersicht

Die Biodynamische Psychotherapie wurde von der norwegischen Psychologin Gerda Boye­sen (1922-2005) entwickelt. Es handelt sich um eine tiefenpsychologisch fundierte, körperorientierte Therapieform. Die Wurzeln ihrer Arbeit finden sich in den frühen Libido­theorien des Begründers der Psychoanalyse, S. Freud, der Körpertherapie des Freud­schülers W. Reich und der Physiotherapie, wie sie in Oslo um die Mitte dieses Jahrhun­derts von Prof. Braatoy und Frau Buelow‑Hansen in der Psychiatrie angewandt wurde. Gerda Boyesen verknüpfte deren psychotherapeutisch wirksame Massagen mit psycho­analytischem Denken. Eine wichtige zusätzliche Inspiration war ihre Therapie bei Ola Rak­nes, einem Schüler und Freund von W. Reich. Ihren eigenen Ansatz versteht sie als „Psychoanalyse des Körpers“. Sie nannte ihre Thera­pieform „biodynamisch“, weil der Begriff auf das Prinzip einer natürlichen, spontan fließenden Bewegung der Lebensenergie verweist, einer Kraft, die uns bewegt, lebendig macht und beseelt (bios heißt Leben, dynamisch heißt Kraft). Gerda Boyesen nimmt an, dass Bloc­kierungen dieser Lebensenergie eine bedeutende Rolle bei der Entstehung von psychi­schen und psychosomatischen Beschwerden spielen. Im Laufe der Jahre entwickelte sie zu­sammen mit ihren Töchtern, Ebba und Mona Lisa, ein breites Spektrum origineller und diffe­renzierter Theorien und Methoden, die in dem faszinierenden Bereich „entre psyche et so­ma“ (so der französische Titel ihres ersten Buchs) angesiedelt sind.

2. Biodynamische Psychotherapie ‑ Einblicke in die organischen Tiefen der Psyche

Eine Grundannahme der Körperpsychotherapie ist, dass psychische Störungen eine or­ganische Grundlage haben, sie also in irgendeiner Form verkörpert sind. Wilhelm Reich, der als einer der Väter der Körperpsychotherapie gilt, wies auf die funktionale Identität (und Antithese) von Körper und Geist hin und behauptete, dass sich jede neurotische Störung auch in Form eines Muskelpanzers (chronisch gewordene muskuläre Spannungen) zeige. Unab­hängig von Reich suchte Gerda Boyesen nach den organischen Wurzeln (und Folgen) der Neurosen. Sie entdeckte, dass Störungen der Harmonie von Psyche und Körper sich nicht nur in den Muskeln manifestieren, sondern sich auch auf allen anderen körperlichen Ebe­nen (Haut, Bindegewebe, Faszien, Knochen etc.) in Form eines Gewebepanzers zeigen. Gemeint ist damit die Gesamtheit der Stoffwechselrückstände, die Im Zusammenhang mit unabgeschlossenen emotionalen Zyklen im Gewebe verbleiben, es gleichsam verstopfen (oder ungünstig verändern) und so eine Barriere für das Fließen von Körperenergien und Körperflüssigkeiten darstellt. Der Gewebepanzer wird als die körperliche Ursache psycho­somatischer Symptome und nervöser Schmerzen betrachtet. Zudem wies sie auf die Exi­stenz eines Eingeweidepanzers hin; das ist ein Spannungszustand aufgrund eines Flüssig­keitsdrucks im Inneren der Darmwände, der die Arbeit der so genannten Psychoperistaltik verhindert bzw. erschwert. Ausgehend von diesen Entdeckungen entwickelte G. Boyesen verschiedene Methoden, um das bioenergetische Strömen an seinem psychophysischen Ursprung wieder anzuregen und neurotischen und psychosomatischen Symptomen damit die organische Basis zu entziehen.

3. Biodynamische Psychotherapie ‑ Psychoperistaltik

Der Begriff der Psychoperistaltik beschreibt die zentrale Entdeckung von Gerda Boyesen und ist ihr wesentlichster Beitrag zu Medizin und Psychosomatik. Er umschreibt die Tatsa­che, dass in den Eingeweiden ein interner Selbstregulations‑ und Reinigungsmechanismus wirksam ist, der zur vegetativen Entladung der körperlichen Entsprechungen emotionaler Ereignisse dient. Die spontane Eigenbewegung der mit Flüssigkeit gefüllten Darmwände, die Peristaltik genannt wird, dient also neben der Verdauung von Nahrung auch der Regu­lation nervöser Spannung. Die psychoperistaltische Funktion dient der endgültigen Verdau­ung der biochemischen Abfallprodukte von erregenden oder emotional belastenden Ereig­nissen durch die Eingeweide. Dieser Prozess wird von gurgelnden Geräuschen der Darm­wände begleitet und kann manchmal mit bloßen Ohren oder mit Hilfe eines Stethoskops mitgehört werden. Dabei ist wesentlich, dass ein inneres Gefühl von emotionaler Geborgen­heit und Sicherheit vorliegt; erst dann beginnt die Psychoperistaltik zu arbeiten. Wenn sie gut funktioniert, stellt sich eine entspannte, friedvoll gelöste Atmosphäre ein, die von einem harmonischen und frischen Gefühl satter Lebendigkeit begleitet wird. Die Psychoperistaltik wird als ein wesentlicher Selbstheilungsmechanismus unseres Körpers betrachtet. Ihr Funktionieren gilt als entscheidend für das endgültige Lösen neurotischer Probleme. Sie stimuliert das freie Fließen der Lebensenergie eines Menschen auf allen Ebenen seines Seins.

4. BlodynamIsche Psychotherapie ‑ Das reinigende Strömen der Lebensenergie

Eine wesentliche Annahme der biodynamischen Psychologie ist, dass das freie energeti­sche Strömen reinigend und eutonisch ist, d.h. auf allen körperlichen, emotionalen und kognitiven Ebenen zu einem gesunden und „vergnüglichen“ (G. Boyesen) inneren Gleich­gewicht führt. Der Energiefluss kann die Form lustvoller Wellen libidinösen Gefühls anneh­men, die den ganzen Körper durchströmen. Diese Strömungen wirken reinigend und hei­lend und können als süß, beglückend und wohltuend erlebt werden. Damit einher geht ein Gefühl des unabhängigen Wohlbefindens eines Menschen, der sich mit sich wohl und im eigenen Körper und in der Welt zu Hause und geborgen fühlt und sich von dieser Basis aus vertrauensvoll auf den Kontakt mit anderen Menschen einlassen kann, der den Cha­rakter einer Ich‑Du Begegnung annimmt. Das entspricht dem therapeutischen Ziel, den na­türlichen Rhythmus von Kontakt und Rückzug wiederherzustellen und Bewusstheit und Aus­druck in der Beziehung zu anderen Menschen zu fördern. Die alten unverdauten Erfahrun­gen werden gleichsam geklärt, der unterbrochene Libidokreislauf wird stimuliert, unabge­schlossene emotionale Zyklen runden sich ab, energetische Verhärtungen schmelzen und die Fähigkeit, tief loszulassen, nimmt zu. Damit kehrt auch das Wohlgefühl zurück, das das Lebensrecht eines jeden Menschen ist.

5. Biodynamische Psychotherapie ‑ Die Primärpersönlichkelt

Eine weitere Grundannahme biodynamischer Psychotherapie ist die Existenz einer „Primärpersönlichkeit“. Diese Persönlichkeit ist in Verbindung mit dem instinktiven Selbst, den primitiven und animalischen Bedürfnissen, jedoch ist das vereint mit dem Transzenden­ten…“ (G. Boyesen). Die Primärpersönlichkeit ist Gerda Boyesens Vorstellung eines Men­schen, der seine Lebensenergie frei fließen lässt. Der Begriff entspricht in etwa der Idee eines verkörperten Wahren Selbst oder einer Persönlichkeit, die aus ihrem CORE (nach Reich: Center of Right Energy) heraus lebt. Sie ist in jedem Menschen bereits vorhanden und, ihre volle Entfaltung wird als Therapie‑ und Lebensziel angesehen. Es handelt sich um einen Menschen, der auf der vollen Höhe seines Potentials lebt, es verwirklicht und zu un­abhängigem Wohlbefinden fähig ist. Diese Persönlichkeit besitzt eine natürliche Freundlich­keit und Freude am Leben; sie akzeptiert das Auf und Ab des Lebens; sie ist geerdet und in sexueller und spiritueller Hinsicht offen, ihre „blauen“ (entspannenden, sanften, himmli­schen, absteigenden) und „roten“ (leidenschaftlichen, animalischen, erdhaften, aufsteigen­den) Energien befinden sich in harmonischer Balance; sie kann lieben und ist ethisch, wo­bei diese Ethik durch „ewige Werte“ bestimmt wird: Liebe, tiefes Verständnis, Schönheit, Mitgefühl, Würde, Anstand/Tugend und Leidenschaft, Humor und Verspieltheit, aber auch gerechter Zorn. Sie ist charakterisiert durch eine natürliche und liebevolle Verbundenheit mit sich selbst, anderen Menschen und dem Universum.

6. Biodynamische Psychotherapie ‑ Die Sekundärpersönlichkeit

Viele Menschen machen in ihrer Kindheit und späteren Lebenswelt schwierige Erfahrungen. Sie erleben Ablehnung, Überforderung, Unterdrückung, Kränkung, Missachtung und Ver­nachlässigung, emotionale Ausbeutung, mangelnde Wertschätzung, traumatische Erfah­rungen usw. Wir alle sind mehr oder minder davon betroffen. Um unser Überleben zu si­chern, richten wir uns notgedrungen in diesen schwierigen Lebenswelten ein, passen uns an und geben vielleicht viel von dem auf, was eigentlich unsere Persönlichkeit ausmacht. Kurz: Wir bilden eine sekundäre Persönlichkeit aus, die dazu dient, uns vor schädlichen Einflüssen von außen zu schützen. Diese sekundäre Persönlichkeit reduziert jedoch gleich­zeitig unsere Lebendigkeit, weil sie auch dazu beiträgt, innere Impulse, die gefährlich sein könnten, zu unterdrücken. Das beeinträchtigt unser Denken, Fühlen, Handeln und Empfin­den. Unser Gefühl für die eigene Lebendigkeit ‑ unser ES‑Sense ‑ nimmt Schaden. Den inneren organismischen Druck, den wir empfinden, wenn wir unsere zurückgehaltenen Impulse wieder spüren, betrachten wir als das körperliche Gegenstück der uns innewoh­nenden Sehnsucht, den Kontakt mit unserer Essenz wiederherzustellen und uns in unserer Einzigartigkeit, unserer primären Persönlichkeit, zu entfalten. In folgenden Bereichen kann unsere Lebendigkeit stagnieren:

• auf der verbal‑kognitiven Ebene (Gedanken, Erinnerungen, Vorstellungen, Glaubens­sätze … )
• auf der bildlichen Ebene (eingefrorene Bilder über uns und die ‚Welt’…)
• auf der Gefühlsebene (Verdrängungen, Ängste, Überreaktionen, innere Leere…)
• auf der Ebene der Körperempfindungen (Schmerz, Taubheit, Lustlosigkeit…)
• auf der Ebene der motorischen Bewegung (Anspannung, Unruhe, Getriebenheit, Schlaffheit … )
• auf der vegetativen Ebene (Blockierungen in den unwillkürlichen Lebensfunktionen wie
Verdauung, Atmung, Blut‑ und Flüssigkeitskreislauf, Stoffwechselprozesse … )

Biodynamische Therapie versucht nun, unsere Lebendigkeit auf all diesen Ebenen wieder freizusetzen (Biorelease).

7. BiodynamIsche Psychotherapie ‑ Therapeutische Prinzipien: Vom Ich zum Es, vom Es zum Ich

In biodynamischer Therapie ist die Grundhaltung eher akzeptierend, einladend, ermutigend als fordernd oder eindringend. Viel Wert wird auf einfach da sein und Geschehenlassen gelegt. Die ruhige, heitere und aufmerksame Präsenz des Therapeuten wird gleichsam als der atmosphärische Nährboden betrachtet, in dem der Klient auf allen seinen Seinse­benen zu sich selbst finden kann. Mit Hilfe von Körperbehandlungen und Massagen werden die Spannungspunkte und energetischen Stauungen und Blockaden allmählich gelockert, so dass ganz allmählich die Lebensfreude der Primärpersönlichkeit zurückkehren kann. Neben der direkten Körperarbeit und intentionalen Berührungen wird viel Raum für Ge­spräch und emotionales Durcharbeiten gegeben. Bilderarbeit, Körper(spür)übungen, Atemtechniken und verbale Methoden finden Verwendung. Die Beziehung zwischen Thera­peut und Klient wird kooperativ und nicht‑direktiv gestaltet. Sowohl körperlich als auch psy­chologisch wird mit dem Material gearbeitet, das dem Ich des Klienten am nächsten ist.

Auf therapeutische Ansprüche, wie der Klient sein sollte oder wohin er sich zu entwickeln habe, wird so weit als möglich verzichtet. Es werden eher wenig Deutungen gegeben; läuft alles gut, stellen sich die Antworten von alleine ein. Ein wichtiges biodynamisches Arbeitsprinzip ist, „es sprechen zu lassen“, also zu einem organischen, verwurzelten Sprechen einzuladen, so dass sich das Unbewusste leichter entfalten kann. Ein anderes Prinzip ist, dem Klienten zu folgen, wenn er auf seinem Weg ist und die Führung zu übernehmen, wenn der Klient seine eigenen emotionalen Zyklen unterbricht. Die Störungen des Klienten werden als kreative Schutzwiderstände verstanden, die Respekt verdienen. Die Therapie dient dem Ziel, die Selbstregulations‑ und Selbstheilungskräfte des Klienten wieder zu aktivieren.

8. Biodynamische Massagetherapie

Die Biodynamische Massagetherapie verwendet die Prinzipien der Biodynamischen Psy­chotherapie, besteht jedoch im wesentlichen aus strukturierten Massagen und direkten Körperbehandlungen. Die unmittelbare Arbeit mit und am Körper ist der Schwerpunkt. Das therapeutische Gespräch dient der Integration der Erfahrungen aus der Körperarbeit.

Biodynamische Massagetherapie

• kann zu mehr Körperbewusstsein beitragen und eröffnet damit Möglichkeiten, effektiver mit Stress umzugehen.
• kann das reinigende Strömen der Lebensenergie wieder anregen
• kann den Selbstheilungsmechanismus der Psychoperistaltik anregen und so zur end­gültigen Verarbeitung schwieriger Erfahrungen beitragen
• kann dabei unterstützen, körperliche Fehlhaltungen zu korrigieren
• kann einschränkende Atemmuster freier machen und damit die psychoperistaltische Selbstregulierung aktivieren
• kann eine ausgewogenere Balance zwischen dem zentralen und vegetativen Nervensy­stem (zwischen Kopf und Bauch) fördern
• kann physische und/oder psychosomatische Beschwerden z.B. Rückenbeschwerden, (Kopf)Schmerzen, Migräne, Schlaflosigkeit u.ä. lindern und zuweilen ganz beseitigen
• kann nach traumatischen Ereignissen, die einen körperlich und seelisch aus dem Gleichgewicht gebracht haben, helfen, wieder zu sich zu finden
• kann einfach wohltuend und streßreduzierend sein, gerade für diejenigen, die für ge­wöhnlich eher viel geben, für andere da sind, viel arbeiten und sich dabei wenig Ruhe und Entspannung gönnen.

Der Umgang mit Berührung, mit Nähe und Distanz, mit Loslassen und Hingabe, aber auch damit, sich abzugrenzen, sind Themen, die in Biodynamischer Massagetherapie erforscht werden können. Das wichtigste jedoch, was die biodynamische Körperbehandlung bewirken kann, ist, in sich ein sicheres Zu­hause zu finden und sich selbst und dem eigenen Körper und damit dem eigenen Unbewußten zu vertrauen.