1 Realistisch denken

„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“ (Herbert Kappauf)


Zusammenfassung der Kernaussagen dieses Artikels:

‚Realistisch denken‘ ist eine vom Psychoonkologen Carl O. Simonton entwickelte Art und Weise, sein eigenes Denken zu beruhigen und vor allem bei schweren Erkrankungen neu auszurichten: „Ich kann wieder gesund werden. Dafür gibt es keine Garantie, aber wenn ich gesunde Dinge tue, steigt meine Chance, wieder gesund zu werden. Die Zukunft ist offen. Wunder sind möglich. (So Gott / das Schicksal es will.)“


In den neunziger Jahren habe ich einen Vortrag eines Pioniers der psychotherapeutischen Arbeit mit Krebserkrankten gehört, Carl O. Simonton, der mich sehr beeindruckt hat. Simonton berichtete darüber, dass er sich bei den Erkrankten, die oft an erheblichen Angstgedanken und entsprechenden Körperzuständen litten, darum bemühte, ihnen eine Art zu denken nahe zu bringen, die er für Gesundheit als förderlich erachtete und die er „realistisches Denken“ nannte.

Realistisches Denken besteht aus einem Satz sehr einfacher Grundgedanken:

a) Ich kann wieder gesund werden.

b) Es kann sein, dass ich an dieser Krankheit sterbe.
(Man erinnere sich: Simonton hat diese Geisteshaltungen für Krebspatienten entwickelt. Und auch wenn die medizinischen Behandlungsstrategien bei vielen Krebsarten immer erfolgreicher werden, ist es doch weiter eine gefährliche, zuweilen das Leben bedrohende Erkrankung.)

c) Denn es gibt keine Garan­tie, dass ich wieder ganz gesund werde.

d) Aber wenn ich gesunde Dinge tue, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich wieder gesund werde.

e) Dies gilt selbst dann, wenn die statistische Wahrschein­lichkeit dafür gering oder sogar sehr gering sein mag.

„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“ wie es der Arzt Herbert Kappauf formulierte, der die Geschichten spontaner Heilungen bei Krebs studiert hat.

Wunder sind möglich. Die Zukunft ist offen.

Ich kann jetzt durch mein Tun und Handeln mit entscheiden, welche meiner möglichen Zukünfte wahrscheinlicher wird.

Realistisches Denken hilft gegen negatives Denken, das uns nur in Hoffnungslosigkeit stürzen würde. Es ist oft auch nützlich bei einem allzu positiven Denken, das alle realistischen Gefahren und emotional belastenden Begleiterscheinungen einer schweren Erkrankung ausblendet und verdrängt. Das Problem dieser Denkart liegt auch darin, dass es wichtige und stimmige Gefühle nicht zulassen kann und verleugnet, aus dem Gedanken heraus, man würde sich im Kampf gegen die Krankheit schwächen, wenn man sich das Vorhandensein solch verständlicher Gefühle wie Verzweiflung, Hilflosigkeit, Todesangst etc. eingestehen würde. Dann verbleiben diese Gefühle im Unbewussten und können so eventuell mehr Schaden anrichten als wenn sie zugelassen und verstanden werden. Der entscheidende Punkt ist jedoch, ob und inwieweit das Zulassen dieser Gefühle in einem mitmenschlichen oder inneren mitfühlenden und verständnisvollen Raum geschehen kann. Erst dieses annehmende und mitfühlende innere oder äußere Gewahrsein schafft einen heilsamen Raum, in dem die dunklen Affekte trostloser Erwartungen ihre potentiell giftige Schärfe verlieren können.

Es hilft stets, sich mit der „Rüstung der Geduld“ zu wappnen – „Beharrlichkeit ist von Heil“ heißt es so oft im chinesischen Prophetie- und Weisheitsbuch I Ging – und auch kleine Fortschritte in die gewünschte Richtung zu begrüßen und dafür dankbar zu sein. Hoffnungen auf schnelle und totale Erfolge führen schnell in Frustration und Resignation. Wann immer man für sich selbst ein unrealistisches Ziel definiert (z.B. „Ich will sofort wieder ganz gesund sein“) öffnet man Tür und Tor für Versagenserlebnisse und baut so unbeabsichtigt an einem Selbstbild des hoffnungslosen Losers. Daher ist es sinnvoll, sich im Hinblick auf die eigene Symptomatik auf Gedanken der allmählichen Besserung und des schrittweisen Linderns einzustimmen. Es ist wichtig, auch Rückschritte einzukalkulieren, denn keine Entwicklung verläuft völlig geradlinig. Gut ist stets, der Selbstwirksamkeit des eigenen Handelns zu vertrauen: Wenn ich gesunde Dinge tue, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich wieder gesund werde. Sogar ganz ohne Wunder!

Ein absolut wesentlicher Gedanke ist jedoch hinzuzufügen: Es gibt Grenzen des eigenen Tuns. Das gute Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit darf nicht in die Hybris der Selbstüberschätzung führen. Es gilt die realistische Sicht: Selbst wenn man alles Mögliche für seine Gesundung tun mag, kann es geschehen, dass sich die Krankheit durchsetzt. Das liegt einfach daran, dass unser Gesund- oder Krank sein von unendlich vielen Faktoren beeinflusst wird, die wir weder alle bewusst kennen noch im Griff haben können. Religiöse Menschen können diese Grundbedingung der menschlichen Existenz oft leichter akzeptieren und antworten darauf mit dem Gebet der Demut: „Dein Wille geschehe“, das ihnen Trost zu geben vermag. Doch auch für alle anderen ist diese Einsicht in die Grenzen des eigenen Tuns wesentlich, relativiert sie doch überzogene Erwartungen an sich selbst und hilft dabei, sich mit sich selbst zu versöhnen und liebevoll und akzeptierend mit sich verbunden zu bleiben, wenn die eigenen Anstrengungen um Heilung nicht das gewünschte Ergebnis erzielen.

 

Literaturempfehlungen:

Kappauf, Herbert (2011): Wunder sind möglich, Freiburg: Kreuz Verlag

Simonton, Carl O. (1995): Auf dem Wege der Besserung, Reinbek: Rowohlt Vlg.